Acharej Mot–Kedoschim

»Heilig sollt ihr sein!«

Ja, es gilt für alle im Volk Israel: »Kedoschim tihiju« Foto: Getty Images / istock

»Acharej mot schnej benej Aharon« – so beginnt unser Wochenabschnitt, dieses Jahr zusammen mit Kedoschim als Doppelparascha. Mit denselben Worten beginnt auch die Toralesung an Jom Kippur.

Hier wird der Opferdienst am Versöhnungstag beschrieben, als es noch ein Heiligtum gab: erst das Stiftszelt, dann den Tempel. Wie erhaben erscheint uns der Dienst des Kohen Hagadol, des Hohepriesters, in seinen weißen Leinenkleidern!

Und doch – wie wenig erhaben mag das Opferritual tatsächlich abgelaufen sein. Wer das großartige Panorama des antiken Pergamon von Yadegar Asisi betrachtet, der sieht dort eine Tieropferszene vor dem Pergamon-Tempel. Sicher, das war ein heidnischer Tempel; aber ganz ähnlich wird man sich die seinerzeitigen Opfer im Jerusalemer Tempel wohl auch vorstellen müssen.

Man begreift nun, weshalb der Hohepriester zwischendurch seine Kleider wechseln und sich waschen gehen musste. Dies war ganz offensichtlich nicht nur der spirituellen Reinheit geschuldet.

Tempeldienst Der Opferdienst von einst ist mit der Zerstörung des Tempels verschwunden. Anfänglich war das ein großes Problem für das Volk. Wie sollte es nun Versöhnung finden?

Das wurde Rabbi Jochanan ben Sakkai von seinen verzagten Schülern gefragt. Und er erklärte ihnen, dass anstelle des Tempeldienstes eine andere Sühne existiere, nämlich durch die Werke der Nächstenliebe. Das hatten schon die Propheten gefordert, als der Tempel noch stand. Aber auch deren Forderung war keineswegs neu, findet sie sich doch bereits in der Tora.

»Kedoschim tihiju« – »Heilig sollt ihr sein!« Heilig sein, wie macht man das?

Die Parascha Kedoschim gibt uns dazu ganz konkrete Anweisungen: Vater und Mutter soll man ehren, sich keine Götzenbilder machen, die Bedürftigen unterstützen, nicht stehlen, nicht betrügen und nicht lügen. Wenn man beleidigt wird, so darf man das durchaus zurückweisen, aber man soll nicht nachtragend sein, und auch Hass soll man nicht hegen. Abergläubisch soll man nicht sein; und man soll auch verantwortungsvoll mit der Sexualität umgehen.

Der Kernsatz, der letztlich all das zusammenfasst, findet sich im 3. Buch Mose 19,34: »Du sollst ihn (den Fremden) lieben wie dich selbst.«

gedanken Keinen Hass hegen – das bedeutet: Nicht nur Taten, sondern auch Gedanken sind entscheidend. Denn Gedanken führen zu Worten, und Worte führen zu Taten.

Darum ist es auch gut und richtig, mit demjenigen zu reden, von dem man sich schlecht behandelt fühlt. Das ist oft schwerer, als seinen Groll einfach in sich hineinzufressen. Doch wenn man das tut, dann wühlt der Groll im Inneren weiter, und irgendwann sucht er sich ein Ventil.

Dem will die Tora vorbeugen, indem sie sagt: Lass es gar nicht erst so weit kommen; sprich mit dem, gegen den du etwas vorzubringen hast. Aber: Sprich mit ihm selbst und beschäme ihn nicht in der Öffentlichkeit!

Öffentlichkeit Der Talmud sagt, eines der schlimmsten Dinge, die ein Mensch dem anderen antun kann, ist es, »sein Gesicht weiß werden zu lassen in der Öffentlichkeit«, also ihn bloßzustellen vor anderen. Das ist bereits eine Form von Rache.

Auch rächen soll man sich nicht, denn das ist für denjenigen, der Rache übt, mindestens genauso schädlich wie für denjenigen, an dem er sich rächt.

Ebenso ist es mit dem Nachtragendsein. Auch das vergiftet einen selbst, mehr noch als es den anderen schädigt.

Raschi (1040−1105) erklärt dazu: »Einer sagt dem anderen: ›Leih mir deine Sense‹, und jener sagt: ›Nein.‹ Am nächsten Tag sagt der Zweite zum Ersten: ›Leih mir deine Axt‹, und er sagt: ›Ich leihe sie dir nicht, wie du auch mir nicht geliehen hast‹ – das ist Rache. Und was heißt ›nachtragen‹? Er sagt zu ihm: ›Leih mir deine Axt‹, und jener sagt: ›Nein.‹ Am anderen Tag sagt der Zweite zum Ersten: ›Leih mir deine Sense‹, und er sagt: ›Hier hast du sie; ich bin nicht wie du, denn du hast mir nicht geliehen!‹ − das ist Nachtragen. Er bewahrt den Hass in seinem Herzen, auch wenn er sich nicht rächt.«

»Ich bin nicht wie du – ich bin ...« Was? Klüger? Besser? Reicher? Großzügiger? Vergleiche machen überheblich, sodass wir unserem Gegenüber womöglich herablassend begegnen. Das gilt auch beim Geben von Zedaka. Die höchste Form der Zedaka, der Spendengabe, ist, wie unsere Weisen sagen, wenn der Geber nicht weiß, wer seine Spende erhalten wird, und derjenige, der die Spende erhält, nicht weiß, von wem sie kommt. So wird die Würde dessen gewahrt, der die Spende erhält.

Nächstenliebe Unsere Parascha bringt uns das nahe am Beispiel der Pea, der Acker­ecke, die man nicht vollständig abernten soll. Wer immer bedürftig ist, wird sich davon nehmen, ob hungrige Menschen oder die hungrigen Tiere und Vögel des Feldes. Das Übriglassen von diesem Teil der Ernte soll einen nicht gereuen, er wird nicht vergeudet sein.

Zur Nächstenliebe gehört aber noch mehr. Auf einem Zeitungsfoto steht breitbeinig ein grimmig blickender junger Mann, kampfbereit mit einem Maschinengewehr in der Hand. Darunter steht: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.«

Bedürfnisse Das Bild bringt es sehr klar zum Ausdruck: Den anderen lieben kann nur, wer sich auch selbst liebt. Damit ist nicht egoistische Selbstverliebtheit gemeint, nicht überhebliche Selbstzufriedenheit, sondern das Mit-sich-im-Reinen-Sein, eben jene Ausgeglichenheit, die man dann erreicht, wenn man nicht ständig an sich zweifelt, wenn man ein gesundes Maß an Bewusstsein für sich selbst und für die eigenen Bedürfnisse entwickelt hat.

Denn erst dann weiß ich ja, was dem anderen fehlt, was er braucht, wie ich ihm helfen kann − nämlich eben genau so, wie ich es für mich selbst haben möchte, wenn ich an seiner Stelle wäre.

All das trägt bei zu diesem »Heilig sollt ihr sein«. Wenn Acharej Mot das Heiligsein von einst beschreibt, so zeigt uns Kedoschim, was es bis in die Gegenwart bedeutet: nämlich ein Heiligsein mitten im alltäglichen Leben, keinesfalls auf den Tempeldienst von damals oder den Besuch der Synagoge von heute beschränkt, bestehend für die Länge des Gebets, und beiseitegelegt mit dem Verlassen des Betraums, sondern im verantwortlichen Umgang mit dem Mitmenschen – und mit sich selbst.

Die Autorin ist Rabbinerin der Liberalen Jüdischen Gemeinde Mischkan ha-Tfila Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).

 

Inhalt
Der Wochenabschnitt Acharej Mot beginnt mit Anordnungen zu Jom Kippur und beschreibt, dass es für den Hohepriester gefährlich war, das Allerheiligste zu betreten. Denn eine zu große Nähe zum Göttlichen barg Gefahren in sich. Im 3. Buch Mose 17 beginnt das Heiligkeitsgesetz. Darin werden weitere Opfergesetze und Speisevorschriften übergeben, wie etwa das Verbot des Blutgenusses und das Verbot des Verzehrs von Aas. Den Abschluss bilden das Thema verbotener Ehen wegen zu naher Verwandtschaft sowie Regelungen zu verbotenen sexuellen Beziehungen.
3. Buch Mose 16,1 – 18,30

Der Wochenabschnitt Kedoschim ist der zentrale Teil des Buches Wajikra. Er enthält Anweisungen für das gesamte Volk Israel, heilig zu sein in Gedanken, Worten und Taten. Der Höhepunkt dieses Abschnitts ist der Satz »Liebe deinen Nächsten so, wie du dich selbst liebst«. Unter anderem werden gefordert: Respekt vor den Eltern, die Einhaltung des Schabbats, Ecken der Felder für Arme übrig zu lassen, nicht zu stehlen, Gerechtigkeit walten zu lassen, keine verbotenen sexuellen Beziehungen einzugehen und mit Maßen und Gewichten ehrlich umzugehen.
3. Buch Mose 19,1 – 20,27

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