Rezension

Halacha für heute

»Der Gott, der Lügen hasst«: Buchtitel Foto: jewish lights publishing

Den Rang eines Philosophen zu bestimmen, ist keine einfache Angelegenheit. Im Grunde sind Laien bei einer solchen Aufgabe auf die Einschätzung von Fachleuten angewiesen. Ist Rabbiner David Hartman ein bedeutender Denker? Immerhin ist ihm ein Artikel in Metzlers Lexikon jüdischer Philosophen gewidmet.

In diesem 2003 veröffentlichten Werk werden 189 intellektuelle Profile gezeichnet. Hartman ist einer der wenigen hier behandelten Denker, die noch unter uns weilen. Rechtzeitig zu seinem 80. Geburtstag hat der seit 1971 in Israel lebende Hochschullehrer ein neues Werk vorgelegt, das in Zusammenarbeit mit Charlie Buckholtz entstanden ist.

Hartman ist ein ausgewiesener Maimonides-Forscher. Und auch in seinem neuen Buch zitiert er etliche Stellen aus dem Werk des großen mittelalterlichen Philosophen und Halachisten. Aber es geht dem Autor nicht nur um die Interpretation der Religionsphilosophie von Maimonides. Er bespricht in seinem neuen Buch aktuelle Probleme unserer Zeit.

Es ist zwar immer problematisch, einen originellen Denker in eine bestimmte Schublade einordnen zu wollen, aber es ist doch möglich, seine Position einzukreisen. Hartman befindet sich am linken Flügel der modernen Orthodoxie, zu der man auch seinen Freund Rabbiner Irving (Yitz) Greenberg rechnen kann. Zur Greenberg-Festschrift hat er einen lehrreichen Beitrag über Moses Maimonides geschrieben.

Entscheidung Beide waren Schüler von Rabbiner Joseph Ber Soloveitchik (1903–1993), jedoch haben sie sich in einigen Punkten von den Ansichten ihres berühmten Lehrers entfernt. Hartman betont, dass er Soloveitchik sehr viel verdankt, aber in der umstrittenen Sache bleibt er ganz hart und kompromisslos. Als Gemeinderabbiner wurde Hartman mit halachischen Fragen konfrontiert, die er anders behandelte als Soloveitchik. Den Grund für seine vom Meister abweichende Entscheidung erklärt er damit, dass die Halacha eine moralische Kritik nötig habe. Bei dieser Meinungsverschiedenheit geht es um die Grenzen der Orthodoxie.

Der Autor referiert eine grundsätzliche Diskussion zwischen Rabbiner Emanuel Rackman und seinem Lehrer Soloveitchik über die Lösung des Problems von Frauen, deren Männer nicht in eine Scheidung einwilligen wollen. Die Argumente beider Seiten werden dargelegt, und es ist klar, dass Hartman die Einstellung seines Lehrers für falsch und verhängnisvoll hält. Er spricht davon, die moderne Orthodoxie habe einen falschen Weg eingeschlagen.

Fragen, die der moderne jüdische Feminismus aufgeworfen hat, greift Hartman auf. Er zitiert auch seine Tochter Tova Hartman, die 2007 ein Buch über Konflikte zwischen Feminismus und Judentum in englischer Sprache veröffentlichte. Der Autor kritisiert eine bestimmte Form der Apologetik, weil sie seiner Meinung nach nicht wirklich den Tatsachen entspricht. Der Titel des neuen, bisher nur auf Englisch publizierten Buches, Der Gott, der Lügen hasst, verweist auf hier und da vorgebrachte Annahmen, die mehr als fragwürdig sind und die viele moderne Juden daher nicht akzeptieren wollen.

Gegenwart Lesenswert ist die neue Studie von Hartman, weil sie eine philosophische Deutung des Religionsgesetzes (Halacha) ausbreitet. Nach Ansicht des Autors darf man in der Halacha nicht nur ein System von Vorschriften sehen. Sie sei vor allem als ein Erziehungssystem zu begreifen. Die Gebote und Verbote der Tora seien dazu geeignet, unser Bewusstsein von Gottes Gegenwart zu stärken.

Zweck der alle Bereiche des Lebens umfassenden halachischen Praxis ist und bleibt es demnach, ständig eine Beziehung mit dem Ewigen zu strukturieren. Hartman meint, dass die Halacha unterschiedliche Bedeutung für verschiedene Typen von Individuen und Gemeinschaften gewinnen kann. Sie führt den Menschen auf unterschiedlichen Wegen zur (von der Tora gebotenen) Gottesliebe .

In einer seiner autobiografischen Bemerkungen bekennt Hartman, dass er in den 18 Jahren seiner Tätigkeit als Gemeinderabbiner in Amerika selten die Gottesliebe in den Vordergrund der halachischen Erziehung oder Praxis gerückt habe. Erst die Lebenserfahrung und weitere Studien brachten ihn dazu, das halachische System nach den Gegebenheiten unserer Zeit neu zu interpretieren. Er spart nicht an Kritik am religiösen Establishment in Israel. Auch solche Personen, die nicht immer die Meinung des humorvollen Autors teilen können, werden sein neues Buch mit Gewinn und Genuss lesen.

David Hartman, Charlie Buckholtz. The God Who Hates Lies: Confronting & Rethinking Jewish Tradition. Jewish Lights Publishing. Woodstock 2011, 192 S., 19,99 €

Bayern

Merz kämpft in wiedereröffneter Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  15.09.2025 Aktualisiert

Ki Tawo

Echte Dankbarkeit

Das biblische Opfer der ersten Früchte hat auch für die Gegenwart eine Bedeutung

von David Schapiro  12.09.2025

Talmudisches

Schabbat in der Wüste

Was zu tun ist, wenn jemand nicht weiß, wann der wöchentliche Ruhetag ist

von Yizhak Ahren  12.09.2025

Feiertage

»Zedaka heißt Gerechtigkeit«

Rabbiner Raphael Evers über Spenden und warum die Abgabe des Zehnten heute noch relevant ist

von Mascha Malburg  12.09.2025

Chassidismus

Segen der Einfachheit

Im 18. Jahrhundert lebte in einem Dorf östlich der Karpaten ein Rabbiner. Ohne je ein Werk zu veröffentlichen, ebnete der Baal Schem Tow den Weg für eine neue jüdische Strömung

von Vyacheslav Dobrovych  12.09.2025

Talmudisches

Stillen

Unsere Weisen wussten bereits vor fast 2000 Jahren, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt

von David Schapiro  05.09.2025

Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Ethan Tucker leitet eine Jeschiwa, die sich weder liberal noch orthodox nennen will. Kann so ein Modell auch außerhalb New Yorks funktionieren?

von Sophie Goldblum  05.09.2025

Trauer

Eine Brücke zwischen den Welten

Wenn ein Jude stirbt, gibt es viele hilfreiche Riten. Doch auch für Nichtjuden zeigt die Halacha Wege auf

von Rabbiner Avraham Radbil  05.09.2025

Ki Teze

In Seinem Ebenbild

Was der Tanach über die gesellschaftliche Stellung von Frauen sagt

von Rabbinerin Yael Deusel  04.09.2025