Macht

Härter bestraft

Israels früherer Ministerpräsident Ehud Olmert vor Gericht in Jerusalem (Februar 2016) Foto: Flash 90

Macht

Härter bestraft

Die Tora lehrt, dass die Fehler der Anführer schwerer wiegen als die des einfachen Mannes

von Rabbiner Joel Berger  02.05.2016 16:42 Uhr

Die Parascha dieser Woche lehrt uns einiges über Jom Kippur und dessen Opferdienst. Gleich am Anfang wird an einen »Betriebsunfall« im Tempel erinnert: Nadav und Avihu, die Söhne des Hohepriesters Aharon, verunglückten im Heiligtum. Die beiden hatten beim Darbringen ihrer Opfer ein schwerwiegendes Vergehen begangen: Sie »nahmen jeder seine Räucherpfanne. Sie legten Feuer auf, taten Räucherwerk darauf und brachten vor dem Herrn ein unerlaubtes (fremdes) Feuer dar, eines, das Er ihnen nicht befohlen hatte« (3. Buch Mose 10,1). Für diese Freveltat mussten die beiden mit ihrem Leben bezahlen.

Über diese unangemessene Tat der beiden Priester gehen die Meinungen unserer Gelehrten weit auseinander. Einige waren der Ansicht, dass Nadav und Avihu ihren heiligen Dienst unter Alkoholeinfluss ausgeübt hätten und deshalb so hart bestraft wurden. Andere Exegeten berufen sich auf den Midrasch. Dort wird von einer weiteren Sünde der Söhne Aharons berichtet: Sie waren ledig geblieben. Demgegenüber wird betont, dass Aharon selbstverständlich verheiratet war, denn wir lesen: »Und Aharon soll ... sein Sündopfer darbringen, damit er für sich und für sein Haus (für seine Familie) Sühne erwirke« (3. Buch Mose 16,6). Laut der Halacha darf nämlich ein unverheirateter Hohepriester nicht den Dienst an Jom Kippur verrichten.

Reinheit Der Fehler Nadavs und Avihus lag darin, dass sie annahmen, ihr Priesteramt zwinge sie zu absoluter Enthaltsamkeit. Sie meinten, ihr Status der Heiligkeit und Reinheit sei nicht mit der Gründung einer Familie vereinbar. Vielleicht hatten sie Mosche vor Augen, der, als er aus Midjan nach Ägypten zurückkehrte, seine Ehefrau für eine Weile bei ihrem Vater Jitro zurückgelassen hatte. Doch Nadav und Avihu fragten Mosche nicht um Rat. Sie gelangten zu ihrem Entschluss, enthaltsam zu sein, aufgrund der eigenen Überlegung und des Hochmuts.

Ein Midrasch vermutet, dass Nadav und Avihu ein Ehelosigkeitsgelübde abgelegt hätten, weil ihnen keine Frau für eine Ehe ebenbürtig zu sein schien. Sie wurden also auch deshalb bestraft, weil sie als Priester auf das Familienleben verzichten wollten.

Der jüdischen Auffassung nach bezieht sich das Gebot der Tora »Vermehret euch!« auf den Boden, den G’tt Israel geschenkt hat, auf jeden Menschen, welches Amt auch immer er bekleiden mag.
Dieser Midrasch ist auch ein Hinweis darauf, dass das Judentum jegliche Formen des Zölibats ablehnt. Es war in vielen jüdischen Gemeinden üblich, dass ein unverheirateter Mann keinen Posten in der Gemeinde erhielt. Auch ein lediger Rabbiner wurde nicht angenommen, denn sein Familienleben sollte der Gemeinde als Vorbild dienen.

Volkstümlich Es ist bezeichnend, dass bei der Deutung dieses Toraabschnitts nicht nur auf die Interpretationen großer Gelehrter zurückgegriffen wird, sondern häufig auch auf volkstümliche Auslegungen einfacher Synagogenbesucher. So verwendet man öfter den Titel dieses Wochenabschnitts, »Acharej Mot«, wie auch den der darauffolgenden Parascha »Kedoschim« für eine ethische Deutung. In Jahren, die kein Schaltjahr sind wie dieses, werden nämlich die Wochenabschnitte »Acharej Mot« (»Nach dem Tod«) und »Kedoschim« (»Heilig sein«) zusammengelegt und am selben Schabbat in der Synagoge vorgetragen. Diese Tatsache macht sich jene volkstümliche Exegese zunutze und verkündet als ethische Grundeinstellung, dass »nach dem Tod« alle Menschen als »Heilige« zu betrachten sind und ihnen nichts Böses nachgesagt werden soll. Natürlich bezieht sich das nicht auf Mörder und Kriegsverbrecher oder Terroristen.

Seit biblischen Zeiten gilt die vorherrschende jüdische Auffassung, dass die abwegigen Taten der Anführer strenger bewertet werden als die des einfachen Mannes. Aus den biblischen Erzählungen lassen sich mehrere Beispiele dafür anführen.

So beging Mosche während der Wüstenwanderung einen Fehler bei der Versorgung des Volks mit Wasser: »Und Mosche erhob seine Hand und schlug den Felsen mit seinem Stab zweimal; da kam viel Wasser heraus (…), und die Gemeinde und ihr Vieh tranken« (4. Buch Mose 20,11). Mosche handelte dabei gegen die Anweisung G’ttes, denn der hatte zu ihm gesagt, er und Aharon sollen zu dem Felsen reden, und dann würde der Felsen Wasser geben (20,8). Zur Strafe dafür durfte Mosche das Land der Verheißung nicht betreten, sondern musste in der Wüste sterben.

Diese Einstellung bildet auch den Grund für die harte Bestrafung der Söhne Aharons, die ihre priesterlichen Dienste vernachlässigt und missbraucht haben. Auch spätere Zeiten liefern ähnliche Beispiele: So missachtete der erste König Israels, Schaul, die Anweisung des Propheten Schmuel in der Schlacht gegen Amalek. Es war Schaul verboten, Beute vom Feind zu nehmen. Weil er das Verbot missachtete, verlor er seine Macht: »Warum hast du nicht auf die Stimme des Herrn gehört, sondern hast dich zum Raub gewandt und übel gehandelt vor den Augen des Herrn?« (Schmuel I 15,19). Schaul verlor die Königswürde, und so konnte ihm der junge David auf den Thron folgen.

Diese Beispiele zeigen, dass es den Obersten Israels schon in früherer Zeit untersagt war, mit ihrer Macht willkürlich umzugehen. Diese Haltung des Judentums bekommen heute manchmal auch Gemeindevorsitzende und Rabbiner zu spüren.

Der Autor war von 1981 bis 2002 Landesrabbiner von Württemberg.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Acharej Mot beginnt mit Anordnungen zu Jom Kippur. Dann werden weitere Speisegesetze übergeben, wie etwa das Verbot des Blutgenusses und das Verbot des Verzehrs von Aas. Den Abschluss bilden verbotene Ehen wegen zu naher Verwandtschaft und Regelungen zu verbotenen sexuellen Beziehungen.
3. Buch Mose 16,1 – 18,30

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