Schamir

Härter als Fels

Der siebte Ministerpräsident des Staates Israel, Jitzchak Schamir (1915–2012), wurde eigentlich als Jitzchak Jaziernicki geboren. »Schamir« war sein Deckname während seiner Tätigkeit in der Untergrundorgani­sation Lechi, den er später als seinen Nachnamen adaptierte. Laut seiner Frau Shulamit fand er »Schamir« besonders passend, weil der Begriff im Tanach einen Felsen bezeichnet, der Metall schneidet.

In der Tat wird das Wort »Schamir« von den Propheten im Tanach als Metapher für etwas sehr Hartes verwendet, aber darüber hinaus finden wir dort keine weiteren Hinweise darauf, worum es sich bei diesem Schamir handelt.

furcht An einer Stelle heißt es: »Schamir gleich, härter als Fels habe ich deine Stirn gemacht, du wirst sie nicht fürchten, wirst vor ihnen nicht zittern, auch wenn sie ein Haus des Ungehorsams sind« (Jecheskel 3,9). Und an anderer Stelle: »Die Sünde von Jehuda ist mit einer eisernen Feder und mit der Spitze eines Schamirs geschrieben, sie ist auf die Tafel ihres Herzens und auf die Hörner eurer Altäre eingraviert« (Jeremia 17,1).

In der rabbinischen Literatur wird der Schamir in der Mischna (Pirkej Awot 5, Mischna 6) als eines der zehn Dinge aufgezählt, die kurz vor Sonnenuntergang des sechsten Tages der Schöpfung erschaffen wurden.

Rabbi Jehuda Löw aus Prag (1520–1609), bekannt als Maharal, erklärt, dass es sich bei diesen zehn Dingen um übernatürliche Erscheinungen handelt. Aber wofür wurde dann der Schamir erschaffen?

WERKZEUG »Und baust dort dem Ewigen, deinem G’tt, einen Altar, einen Altar aus Steinen, über welche du nicht Eisen schwingen darfst«, heißt es im 5. Buch Mose 27,5. Die Tora verbietet es, beim Bau des Misbeachs Eisen für die Bearbeitung der Steine zu verwenden. So steht auch im 1. Buch der Könige (6,7), dass beim Bau des Tempels durch König Schlomo keine eisernen Werkzeuge verwendet wurden.

Mithilfe des Schamirs sei es möglich, Steine zu zerschneiden – so sagten die Weisen.


Doch wie war es möglich, Steine in die richtige Größe zu zerteilen – ohne die Verwendung eiserner Werkzeuge? Der Talmud (Traktat Gittin 68a) erzählt, dass König Schlomo diese Frage den Weisen stellte. Sie offenbarten ihm, dass es mithilfe des Schamirs möglich sei, Steine zu zerschneiden. Dieser Schamir wurde schon zuvor von Mosche verwendet, um die Namen der zwölf Stämme auf die Edelsteine des Efod (Schulterstücke) und Choschen (Brusttafel) einzugravieren. Die Tora (2. Buch Mose 28,20) schreibt vor, dass diese Edelsteine »vollkommen« bleiben müssen und daher nicht die üblichen Werkzeuge verwendet werden dürfen.

König Schlomo fragte, wo dieser Schamir zu finden sei, und die Weisen antworten ihm, dass er vom Engel des Meeres beschützt werde. Darauf folgt eine ausführliche Erzählung, auf welchen Abwegen der Schamir in den Besitz von König Schlomo gelangte.

STEINBRUCH Jedoch gibt es eine weitere Meinung (Rabbi Nechemia) im Talmud, wonach nur auf dem Tempelberg die Verwendung von Eisen untersagt ist. Im Steinbruch hingegen dürfen die Steine mit Werkzeug bearbeitet werden. Rabbi Mosche Ben Maimon, Maimonides (1135–1204), scheint dieser Meinung zu folgen, die besagt, dass der Schamir nur für das Gravieren des Efods und des Choschens gebraucht wurde.

Außerdem steht im Talmud (Traktat Sota 48b) und Tosefta (Traktat Sota 15), dass der Schamir die Größe eines Gerstenkorns hatte und es kein Material gebe, das dem Schamir Widerstand leisten könne. Die einzige Möglichkeit, ihn aufzubewahren, sei in Wolle eingewickelt und in einer Röhre aus Blei.

Doch worum handelt es sich bei diesem sagenumwobenen Schamir? Raschi, Rabbiner Schlomo Izchaki (1040–1105), und Rabbiner Ovadia Ben Avraham aus Bartenura (1450–1516) identifizieren ihn als einen Wurm und Maimonides als eine Schlange oder ein ähnliches Kriechtier.
Aber es gibt auch Meinungen, dass es sich überhaupt nicht um ein lebendes Wesen handelt. Rabbiner Baruch Epstein (1860–1941) sieht darin einen Stein, und laut Rabbiner Saadia Gaon (882–942) ist der Schamir ein Diamant. Es gibt einen Midrasch (Wajikra Rabba 24,4), in dem eine Pflanze erwähnt wird, die Metall sprengen kann, und obwohl der Schamir dort nicht namentlich genannt wird, entnehmen manche daraus, dass der Schamir eine Pflanze gewesen sei.

Aufbewahren kann man den Schamir laut Talmud nur in Wolle eingewickelt und in einem Bleirohr.

Wie schon erwähnt, musste der Schamir in einer Röhre aus Blei aufbewahrt werden. Dieser Aspekt führt gegenwärtige Rabbiner (siehe Mahapach Band 1, Seite 94 von Rabbiner Zamir Cohen) zu der Annahme, dass der Schamir, ob Lebewesen oder Stein, radioaktiv gewesen sein musste und deshalb alle Materialien spalten konnte.

In der Mischna (Sota 9, Mischna 12) steht, dass der Schamir seit der Zerstörung des Tempels nicht mehr zu finden ist. Es gibt eine Diskussion unter den Rischonim, den Gelehrten des Mittelalters, ob damit die Zerstörung des Ersten oder des Zweiten Tempels gemeint ist. Jedoch schreibt Rabbiner Yom Tov Assevilli (1260–1320), dass dies nicht bedeute, der Schamir sei vollkommen verschwunden, sondern nur, dass es sehr schwer sei, ihn ausfindig zu machen.

ENTDECKUNG Im Sommer 2019 machten Forscher der Northeastern University eine sensationelle Entdeckung: Im Fluss Abatan auf den Philippinen fanden sie einen bisher unbekannten Wurm (lithoredo abatanica), der Löcher in Kalkstein bohrt. Dabei handelt es sich um einen durchsichtigen, drei bis sechs Zentimeter langen Wurm aus der Gattung der Schiffsbohrwürmer.

Doch dieser Wurm bohrt sich nicht nur in Kalkstein, um in den entstandenen Aushöhlungen zu leben, sondern er scheint sich sogar davon zu ernähren. Die Wissenschaftler stehen noch immer vor einem Rätsel, von welchen Nährstoffen sich dieser merkwürdige Wurm ernährt.
Wer weiß, vielleicht handelt es sich dabei um einen Nachkommen des Schamirs?

Der Autor ist Rabbiner und lebt in Berlin.

Berlin/Potsdam

Zentralrat der Juden erwartet Stiftung für Geiger-Kolleg im Herbst

Zum Wintersemester 2024/25 soll sie ihre Arbeit aufnehmen

 26.07.2024

Potsdam

Neuer Name für das Abraham Geiger Kolleg bekannt geworden

Die Ausbildungsstätte für liberale Rabbiner soll nach Regina Jonas benannt werden

 26.07.2024

Pinchas

Der Apfel fällt ganz weit vom Stamm

Wie es passieren konnte, dass ausgerechnet ein Enkel Mosches dem Götzendienst verfiel

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  26.07.2024

Talmudisches

Das Leben im Schloss

Was unsere Weisen über die Kraft des Gebetes lehren

von Vyacheslav Dobrovych  26.07.2024

Armeedienst

Beten oder schießen?

Neuerdings werden in Israel auch Jeschiwa-Studenten rekrutiert. Unser Autor ist orthodoxer Rabbiner und sortiert die Argumente der jahrzehntelangen Debatte

von Rabbiner Dovid Gernetz  25.07.2024

Kommentar

Der »Spiegel« schreibt am eigentlichen Thema vorbei

In seiner Berichterstattung über das Abraham-Geiger-Kolleg konstruiert das Magazin eine Konfliktlinie

von Rebecca Seidler  25.07.2024 Aktualisiert

Ethik

Auf das Leben!

Was ist die Quintessenz des Judentums? Der Schriftsteller Ernest Hemingway hatte da eine Idee

von Daniel Neumann  19.07.2024

Balak

Verfluchter Fluch

Warum der Einsatz übernatürlicher Kräfte nicht immer eine gute Idee ist

von Rabbinerin Yael Deusel  19.07.2024

Talmudisches

Chana und Eli

Über ein folgenreiches Gespräch im Heiligtum

von Rabbiner Avraham Radbil  19.07.2024