Chol Ha-Moed

Grund allen Seins

Foto: Getty Images

Chol Ha-Moed

Grund allen Seins

Die 13 Middot, die »Gʼttlichen Eigenschaften«, enthalten universelle Verhaltensnormen für alle Menschen

von Rabbiner Joel Berger  26.04.2024 11:15 Uhr

Nach den ersten beiden Hauptfeiertagen des Pessachfestes beginnt am dritten Tag eine Zeit, die man Chol Hamoed nennt – wörtlich: die Wochentage des Festes. Wir sind immer noch im Feiertagsmodus, auch wenn einige von uns zur Arbeit gehen oder sich mit alltäglicheren Dingen beschäftigen. An jedem Tag des »Festes der Befreiung« wird beim Morgengʼttesdienst eine Toralesung in unseren Synagogen abgehalten. Alle diese Abschnitte verbinden uns mit dem Pessachfest in all seinem Reichtum und seiner Einzigartigkeit.

Die besondere Toralesung für Schabbat Chol Hamoed Pessach, für den fünften Tag des Festes, steht im Buch Schemot, dem 2. Buch Mose (33,12–34,26). Sie enthält unter anderem die »13 Middot«, die 13 »Gʼttlichen Eigenschaften«.

Maimonides, der Rambam (1138–1204), vertrat in Anlehnung an den Midrasch Sifre die Auffassung, dass dieser Abschnitt eher als die 13 Drachim, die 13 Wege Gʼttes, bezeichnet werden sollte, oder besser gesagt, als Wege, die wir einschlagen sollen, um Gʼttes Eigenschaften nachahmen zu können.

Der Ewige ist per Definition nicht beschreibbar

Wie der Rambam betont, können wir Gʼtt natürlich nicht beschreiben, weil Er per Definition nicht beschreibbar ist. Also verwenden wir menschliche Eigenschaften und Begriffe, um zu versuchen, uns auf Gʼtt in Ausdrücken zu beziehen, mit denen wir etwas anfangen können. Im Grunde müssen wir unser Verhalten und unsere Einstellung gegenüber unseren Mitmenschen so verbessern, wie Gʼtt sich zu uns verhält.

Der Rambam erklärt, dass der Allmächtige selbst keine Gefühle hat, da Er unendlich ist und sich nicht auf Gefühle beschränkt. Vielmehr werden diese Middot in Bezug auf Gʼttes Handlungen und nicht auf Seine Eigenschaften verwendet. Außerdem wird der Begriff »Middot« nur als Lehnwort verwendet und ist nicht wörtlich zu nehmen. Wir gebrauchen diesen Begriff für Gʼtt, weil Er Handlungen auf eine Art und Weise ausführt, die den menschlichen Handlungen ähnlich sind, die aus unseren Emotionen stammen.

Wenn Gʼtt zornig oder barmherzig zu sein scheint, dann deshalb, weil wir Sein gʼttliches Licht, das in dieser Welt scheint, nur so wahrnehmen können.

Die »13 Eigenschaften« erscheinen in der Tora unmittelbar nach der Episode vom Goldenen Kalb

Die Anordnung der »13 Eigenschaften« im Text der Tora ist wichtig. Sie erscheint unmittelbar nach der Episode vom Goldenen Kalb. Als Mosche vom Berg Sinai hinabsteigt und sieht, was das Volk in seiner Abwesenheit getan hat, dass es ein Goldenes Kalb anbetet, um ihn herumtanzt und jubelt, zerschlägt er die Gesetzestafeln. Daraufhin wird das ganze Volk mit einer Plage bestraft.

Erst dann steigt Mosche wieder auf den Berg, um ein zweites Mal die Gesetzes­tafeln vom Allmächtigen zu erhalten. Der Ewige, so steht es in der Tora, tritt vor Mosche und verkündet: »Gʼtt erbarmungsvoll, gnädig, langmütig, reich an Gnade und Wahrheit, bewahrt die Gnade bis in die tausendste Generation, Er verzeiht Schuld, Frevel und Sünde und läutert, lässt aber den Sünder nicht ungestraft. Er verfolgt die Schuld der Väter an den Söhnen und Enkeln, an der dritten und vierten Generation« (2. Buch Mose 34, 6–7).

Das Bemerkenswerteste an diesem Abschnitt ist die Betonung des Ethischen. Unserem Empfinden nach ist Gʼtt in dieser Passage »das ethische Wesen« oder vielleicht als der ethische Grund allen Seins zu nennen. Der Gʼtt der Middot ist auch ein universeller Gʼtt mit einer Reihe universeller Verhaltensnormen für alle Menschen. Der Gʼtt der Middot ist nicht nur der, der die israelitischen Sklaven aus Ägypten herausgeholt hat, sondern ein Gʼtt für alle Menschen, die danach streben sollen, wie Er zu sein – als seien sie nach dem Bild des einen und einzigen Gʼttes erschaffen worden.

Das Judentum stellt einen ethischen Monotheismus dar, der an die Goldene Regel, das Streben nach Gerechtigkeit und Demut, glaubt.

Der Autor ist emeritierter Landesrabbiner von Württemberg.

Doppel-Interview

»Wir teilen einen gemeinsamen Wertekanon«

Vor 60 Jahren brachte das Konzilsdokument »Nostra aetate« eine positive Wende im christlich-jüdischen Dialog. Bischof Neymeyr und Rabbiner Soussan blicken auf erreichte Meilensteine, Symbolpolitik und Unüberwindbares

von Karin Wollschläger  25.11.2025

Konzil

»Eine besondere Beziehung«

»Nostra Aetate« sollte vor 60 Jahren die Fenster der katholischen Kirche weit öffnen – doch manche blieben im christlich-jüdischen Dialog verschlossen. Ein Rabbiner zieht Bilanz

von David Fox Sandmel  21.11.2025

Toldot

An Prüfungen wachsen

Warum unsere biblischen Ureltern Hungersnöte und andere Herausforderungen erleben mussten

von Vyacheslav Dobrovych  20.11.2025

Kalender

Der unbekannte Feiertag

Oft heißt es, im Monat Cheschwan gebe es keine religiösen Feste – das gilt aber nicht für die äthiopischen Juden. Sie feiern Sigd

von Mascha Malburg  20.11.2025

Talmudisches

Gift

Was unsere Weisen über die verborgenen Gefahren und Heilkräfte in unseren Speisen lehren

von Rabbinerin Yael Deusel  20.11.2025

Jan Feldmann

Eine Revolution namens Schabbat

Wir alle brauchen einen Schabbat. Selbst dann, wenn wir nicht religiös sind

von Jan Feldmann  19.11.2025

Religion

Rabbiner: Macht keinen Unterschied, ob Ministerin Prien jüdisch ist

Karin Priens jüdische Wurzeln sind für Rabbiner Julian-Chaim Soussan nicht entscheidend. Warum er sich wünscht, dass Religionszugehörigkeit in der Politik bedeutungslos werden sollte

von Karin Wollschläger  19.11.2025

Sachsen-Anhalt

Judenfeindliche Skulptur in Calbe künstlerisch eingefriedet

Die Kunstinstallation überdeckt die Schmähfigur nicht komplett. Damit soll die Einfriedung auch symbolisch dafür stehen, die Geschichte und den immer wieder aufbrechenden Antisemitismus nicht zu leugnen

 19.11.2025

USA

6500 Rabbiner auf einem Foto

»Kinus Hashluchim«: Das jährliche Treffen der weltweiten Gesandten von Chabad Lubawitsch endete am Sonntag in New York

 17.11.2025