Wajischlach

Gottesdiener im rauen Leben

Warum ausgerechnet Jakow zum Vater der zwölf Stämme wurde und nicht Awraham oder Jizchak

von Beni Frenkel  13.12.2019 08:08 Uhr

»Jakobs Kampf mit dem Engel« von Pier Francesco Mazzucchelli (Öl auf Leinwand, Mailand um 1610) Foto: imago/Leemage

Warum ausgerechnet Jakow zum Vater der zwölf Stämme wurde und nicht Awraham oder Jizchak

von Beni Frenkel  13.12.2019 08:08 Uhr

Eigentlich könnte die Tora Awraham und Jizchak ausklammern. Der eigentliche Stammvater des jüdischen Volkes ist Jakow. Sein Vater und sein Großvater haben sicher Großes erreicht und sind uns durch ihre Taten sympathisch geworden. Aber wer hat zwölf Kinder gezeugt und den Namen »Israel« erhalten? Das war Jakow.

Leicht zu verstehen ist das nicht. Erinnern wir uns an die Opferschilderung vor ein paar Wochen. Im Wochenabschnitt Wajera haben wir gelesen, wie Awraham bereit war, seinen Sohn zu opfern. Beide, also auch Jizchak, folgen dem vermeintlichen Plan Gottes.

Erst als Awraham das Schlachtmesser in die Höhe hält und im Begriff ist, seinen einzigen Sohn zu töten, greift Gott ein.

Hingabe Wo finden wir bei Jakow ein solches Zeugnis absoluter Hingabe an Gott? Wir lesen davon, wie Jakow um seine Frauen arbeiten musste, wie er sich gegen den Bruder militärisch in Stellung brachte, und wir erfahren von seinen Problemen mit den zwölf Kindern. Das wirkt alles etwas kleinklein. Eine Großtat wie bei seinem Vater oder Großvater finden wir bei Jakow nicht.

Vorfahren Was für standhafte Männer waren hingegen Jakows Vorfahren! Awraham hielt zehn unmenschlichen Prüfungen stand und konnte Gott fast von dessen Plan abbringen, die Stadt Sodom zu zerstören.

Jakow hingegen wirkt gegenüber seinem Schwiegervater wie ein Nebbich, ein armer Tropf: Sieben Jahre lang schuftet er für die hübsche Rachel, doch sein Schwiegervater täuscht ihn und schenkt ihm die weniger hübsche Lea. Jakow mault – und arbeitet weitere sieben Jahre.

Nicht nur im Vergleich zu Awraham, der fast göttlich erscheint, sieht Jakow klein und schwach aus. Auch im Vergleich zu seinem Vater Jizchak wirkt Jakow unmännlich.

Konflikt Im Wochenabschnitt Toldot spielt sich eine brenzlige Szene ab (1. Buch Mose 26,26ff): König Awimelech kommt zu Jizchak, weil es einen Konflikt um zugeschüttete Brunnen gibt. Um die Brisanz des Besuchs zu betonen, hat der König seinen obersten Heerführer mitgebracht. Es könnte also schnell eskalieren.

Doch wie reagiert Jizchak? Von einem Bückling erfahren wir nichts. Vielmehr stellt er die Männer zur Rede: »Warum kommt ihr zu mir?«
Diese Chuzpe muss dem König imponiert haben. Denn drei Sätze später wird in freundschaftlicher Runde miteinander getafelt.

Kommen wir zu Jakow. Er schickt im aktuellen Wochenabschnitt einen Bo­ten zu seinem Bruder Esaw. Der Bote kommt zurück und berichtet ihm, dass Esaw im Anmarsch ist. Mit 400 Männern. Und wie reagiert Jakow? Die Tora beschreibt seine Gefühlslage schonungslos: »Da fürchtete sich Jakow sehr« (1. Buch Mose 32,8). Der große Kommentator Raschi (1040–1105) lässt keinen Zweifel daran: »Jakow befürchtete, möglicherweise getötet zu werden.«

Begegnung Die Geschichte geht gut aus. Doch bleibt die Frage, warum ausgerechnet Jakow der Vater der zwölf Stämme wurde. Warum nicht Awraham oder Jizchak? Bevor es zur Begegnung zwischen Jakow und seinem hasserfüllten Bruder kommt, erzählt die Tora eine seltsame Geschichte. Jakow hat gerade seine Familie über einen Fluss geführt und setzt an, ebenfalls das Wasser zu überqueren.

Ufer Da erinnert er sich, so Raschi, dass er Gefäße am Ufer hat liegen lassen. Er kehrt zurück und wird von einem Mann angefallen. Die beiden kämpfen bis zum Morgengrauen.

Warum er aus dem Hinterhalt überfallen wird, steht nirgends. Jakow scheint ebenfalls keine Ahnung zu haben, mit wem er es zu tun hat. Er kriegt einiges ab. Der Angreifer renkt ihm offenbar die Hüfte aus. Jakow wird fortan nur noch hinken. Doch was macht der Versehrte? Er bittet den Rowdy um einen Segen. »Nicht Jakow soll dein Name sein«, bekommt er als Antwort, »sondern Israel, denn du hast mit göttlichen Wesen und mit Menschen gekämpft – und gewonnen.«

Das war das entscheidende Moment. Den Namen »Jakow« bekam er, weil er bei der Geburt seinen älteren Zwillingsbruder an der Ferse festgehalten hatte. Der etwas peinliche Name verfolgt ihn die ganze Zeit. In den Augen seines Vaters war er immer nur die Nummer zwei. Und auch jetzt, kurz vor der Begegnung mit Esaw, ist er seinem Bruder unterlegen. Er mag zwölf Söhne haben, sein Bruder aber hat 400 Krieger.

Sieger Der neue Name flößt Jakow Selbstbewusstsein ein. Er ist zum ersten Mal nicht der Flüchtende, sondern ein Sieger, wenn auch mit Schrammen. In der Zeit davor war er entweder auf der Flucht oder richtete sich den Umständen entsprechend ein. Sein Schwiegervater spielt mit ihm Katz und Maus. Fast wäre es so weit gekommen, dass Jakow jahrelang umsonst bei Rachels und Leas Vater gedient hätte.

Das unterscheidet ihn fundamental von Awraham und Jizchak, die übergroß auf uns wirken. Konflikte mit anderen Menschen kennen sie kaum. Erst Jakow zeigte, wie man auch ohne Geld und Ansehen ein Gottesdiener im rauen Leben sein kann. Er, der keine schützende Hand kannte und der sich immer wieder an den Menschen rieb, hat es schlussendlich verdient, »Israel« genannt zu werden.

Der neue Name flößt Jakow Selbstbewusstsein ein. Er ist ein Sieger.

Keine andere biblische Figur wird so eng begleitet und schonungslos beschrieben. Zu Beginn tritt er als Zauderer auf. Seine Mutter muss ihn zum Segen schubsen, denn sein Plan war ein anderer. Esaw sollte Awrahams Stab weitertragen. Jakow hätte sich dem gefügt.

Flucht Während der Flucht vor seinem Bruder schläft er auf offenem Feld und träumt von einer Leiter und Engeln. Danach lässt er sich bei seinem zukünftigen Schwiegervater schinden. Und im aktuellen Wochenabschnitt erleben wir Jakow als zitternden Patriarchen, der seine Familie in zwei Hälften teilt, weil er mit dem Schlimmsten rechnet.

Ja, so einer ist unser eigentlicher Stammvater! Dieses stetige Niederfallen, Aufstehen, Niederfallen, Aufstehen charakterisiert ihn wie keine andere Eigenschaft.

Ja, auch wir Juden haben mit göttlichen Wesen und Menschen kämpfen müssen. Unversehrt haben wir diese Dauerfehde nicht überstanden. Der hinkende Jakow, der Furcht hat und immer in Bewegung ist, steht als Ahnherr über unserer Geschichte.

Einer ähnlichen Figur begegnen wir in Mosche. Auch er zauderte und zögerte. Ach, wie schön wäre es, wenn auch unsere heutigen Anführer eine Spur Unsicherheit mit sich trügen!

Der Autor ist Journalist und lebt in Zürich. Er hat an Jeschiwot in Gateshead und Manchester studiert.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Wajischlach erzählt davon, wie Jakow sich aufmacht, seinen Bruder Esaw zu treffen. In der Nacht kämpft er am Jabbok mit einem Mann. Dieser ändert Jakows Namen in Jisra-El (»Gottes Streiter«). Jakow und Esaw treffen zusammen und gehen anschließend wieder getrennte Wege. Später stirbt Rachel nach der schweren Geburt Benjamins und wird in Efrat beigesetzt. Als auch Jizchak stirbt, begraben ihn seine Söhne Jakow und Esaw in Hebron.
1. Buch Mose 32,3 – 36,43

Mezora

Die Reinheit zurückerlangen

Die Tora beschreibt, was zu tun ist, wenn Menschen oder Häuser von Aussatz befallen sind

von Rabbinerin Yael Deusel  18.04.2024

Tasria

Ein neuer Mensch

Die Tora lehrt, dass sich Krankheiten heilsam auf den Charakter auswirken können

von Yonatan Amrani  12.04.2024

Talmudisches

Der Gecko

Was die Weisen der Antike über das schuppige Kriechtier lehrten

von Chajm Guski  12.04.2024

Meinung

Pessach im Schatten des Krieges

Gedanken zum Fest der Freiheit von Rabbiner Noam Hertig

von Rabbiner Noam Hertig  11.04.2024

Pessach-Putz

Bis auf den letzten Krümel

Das Entfernen von Chametz wird für viele Familien zur Belastungsprobe. Dabei sollte man es sich nicht zu schwer machen

von Rabbiner Avraham Radbil  11.04.2024

Halacha

Die Aguna der Titanic

Am 14. April 1912 versanken mit dem berühmten Schiff auch jüdische Passagiere im eisigen Meer. Das Schicksal einer hinterbliebenen Frau bewegte einen Rabbiner zu einem außergewöhnlichen Psak

von Rabbiner Dovid Gernetz  11.04.2024

Berlin

Koscher Foodfestival bei Chabad

»Gerade jetzt ist es wichtig, das kulturelle Miteinander zu stärken«, betont Rabbiner Yehuda Teichtal

 07.04.2024

Schemini

Äußerst gespalten

Was die vier unkoscheren Tiere Kamel, Kaninchen, Hase und Schwein mit dem Exil des jüdischen Volkes zu tun haben

von Gabriel Rubinshteyn  05.04.2024

Talmudisches

Die Kraft der Natur

Was unsere Weisen über Heilkräuter lehren

von Rabbinerin Yael Deusel  05.04.2024