Buch

Geschichte eines Wunderheilers

Der Ruhm von Rabbiner Seckel Löw Wormser, den am 16. September 1847 fast tausend Menschen verschiedenen Glaubens und Standes in Michelstadt zu seiner letzten Ruhestätte begleiteten, beruht auf seinen außergewöhnlichen Taten. Sein Ruhm beruht nicht auf Schriften gelehrten Inhalts. Zwar hat Wormser wohl einiges geschrieben – das meiste davon ist bedauerlicherweise bei einem Hausbrand 1825 verloren gegangen –, aber überhaupt nichts veröffentlicht. Berühmt wurde der eigenwillige Mann als Wundertäter, als ein »Ba’al Schem« (Meister des Namens). Gemäß seiner Bezeichnung heilt ein Ba’al Schem mit Hilfe von göttlichen Namen, wozu auch die Namen der Engel gerechnet werden. Dem Kranken wurden diese Namen in der Regel durch Amulette appliziert. Außerdem lernt ein Ba’al Schem Tora zugunsten der Hilfesuchenden. Mögen eingeschworene Rationalisten solche Heilmittel für absolut wirkungslos halten, die Klienten des Wunderheilers sind davon überzeugt, dass ein Ba’al Schem ihnen wirklich helfen kann.

Legenden Welche Wunder wurden ihm zugeschrieben? Sein Sohn Michael Wormser, der 1853 eine Biografie des Vaters publiziert hat, berichtet, der Ba’al Schem habe in Mannheim eine Frau, die so schwer krank war, dass die Ärzte an ihrer Genesung zweifelten, binnen acht Tagen völlig geheilt. Die spätere Legendenbildung erzählt von zahlreichen Wundertaten, die er vollbracht hat.

Nachträglich zwischen Wirklichkeit und Legende zu unterscheiden, ist gewiss keine einfache Aufgabe. Karl Erich Grözinger, der bis 2007 als Professor für Religionswissenschaft und Jüdische Studien an der Universität Potsdam wirkte, hat sich diese Aufgabe gestellt und sie in vorbildlicher Art und Weise gelöst. Die Ergebnisse jahrelanger Untersuchungen hat der Autor leserfreundlich aufbereitet. Komplizierte Sachverhalte allgemein verständlich und sogar spannend darzustellen, ist eine preiswürdige Leistung.

Grözinger gelingt der Nachweis, dass viele Geschichten über Wormser von anderswo übernommen worden sind (Wanderlegenden). Außerdem vergleicht er Archivmaterial mit Fakten aus der erbaulichen Prosa – da wird sogar Wormsers Geburtsjahr problematisiert (1768 oder 1771). Dokumente, die Grözinger anführt, verraten, mit welchen Widrigkeiten der Ba’al Schem zu kämpfen hatte; sein Kampf um die Erlaubnis rabbinischer Tätigkeiten ist aus heutiger Sicht schier unglaublich.

Jeschiwa Sehr interessant ist, was Grözinger über die Entwicklung von Wormsers Weltanschauung zu sagen hat. Er schildert den Einfluss des bekannten Frankfurter Rabbiners Nathan Adler auf den jungen Wormser, der in die Kabbala eingeführt wurde; in Adlers Schule erlangte Wormser sein »Berufswissen« als Ba’al Schem. Diesen Beruf hat er lebenslänglich ausgeübt. Einen Teil der Einkünfte hat er benutzt, um die von ihm aufgebaute Jeschiwa in Michelstadt zu finanzieren. Um Wormsers rabbinische Gelehrsamkeit zu demonstrieren, hat Grözinger ein Responsum aus seiner Feder ins Deutsche übersetzt. Über Wormsers Büchersammlung urteilt der Potsdamer Judaist: »Eine solche Bibliothek wäre eines Professors für Jüdische Studien würdig.«

Der Ba’al Schem von Michelstadt las auch – das ist für einen Wunderheiler ungewöhnlich und daher bemerkenswert – deutsche wissenschaftliche und philosophische Werke. Das geht eindeutig aus seinen Merkheften hervor, die erhalten ge-
blieben sind. Grözinger referiert ausführlich den Inhalt dieser Notizbücher. Am Schluss gelangte er zu der überraschenden These: »Aus dem ehemaligen Chassid der Kabbala hat sich Wormser zu einem Chassid der Wissenschaften gewandelt.« Die deutsch-jüdische Orthodoxie des 19. Jahrhunderts galt im Vergleich mit der ostjüdischen Orthodoxie als sehr bildungsfreundlich. Dass der Ba’al Schem von Michelstadt ein Vorläufer der modernen deutschen Orthodoxie war, wird nach der Lektüre von Grözingers beeindruckenden Studie niemand in Zweifel ziehen.

Konzil

»Eine besondere Beziehung«

»Nostra Aetate« sollte vor 60 Jahren die Fenster der katholischen Kirche weit öffnen – doch manche blieben im christlich-jüdischen Dialog verschlossen. Ein Rabbiner zieht Bilanz

von David Fox Sandmel  21.11.2025

Toldot

An Prüfungen wachsen

Warum unsere biblischen Ureltern Hungersnöte und andere Herausforderungen erleben mussten

von Vyacheslav Dobrovych  20.11.2025

Kalender

Der unbekannte Feiertag

Oft heißt es, im Monat Cheschwan gebe es keine religiösen Feste – das gilt aber nicht für die äthiopischen Juden. Sie feiern Sigd

von Mascha Malburg  20.11.2025

Talmudisches

Gift

Was unsere Weisen über die verborgenen Gefahren und Heilkräfte in unseren Speisen lehren

von Rabbinerin Yael Deusel  20.11.2025

Jan Feldmann

Eine Revolution namens Schabbat

Wir alle brauchen einen Schabbat. Selbst dann, wenn wir nicht religiös sind

von Jan Feldmann  19.11.2025

Religion

Rabbiner: Macht keinen Unterschied, ob Ministerin Prien jüdisch ist

Karin Priens jüdische Wurzeln sind für Rabbiner Julian-Chaim Soussan nicht entscheidend. Warum er sich wünscht, dass Religionszugehörigkeit in der Politik bedeutungslos werden sollte

von Karin Wollschläger  19.11.2025

Sachsen-Anhalt

Judenfeindliche Skulptur in Calbe künstlerisch eingefriedet

Die Kunstinstallation überdeckt die Schmähfigur nicht komplett. Damit soll die Einfriedung auch symbolisch dafür stehen, die Geschichte und den immer wieder aufbrechenden Antisemitismus nicht zu leugnen

 19.11.2025

USA

6500 Rabbiner auf einem Foto

»Kinus Hashluchim«: Das jährliche Treffen der weltweiten Gesandten von Chabad Lubawitsch endete am Sonntag in New York

 17.11.2025

Talmudisches

Torastudium oder weltliche Arbeit?

Was unsere Weisen über das rechte Maß zwischen Geist und Alltag lehren

von Detlef David Kauschke  14.11.2025