Neulich beim Kiddusch

Geheimer Widerstand

Ich bin in einer kleinen jüdischen Gemeinde aufgewachsen. Zu den Gebeten am Schabbat kamen etwa 15 Personen. Manchmal besuchte uns der israelische Botschafter, dann waren wir 16. Wenn die jüdische Gemeinde in Berlin ein Mercedes ist, dann waren wir ein Lada.

Eine so kleine Gemeinde kann natürlich nur überleben, weil sie einen Präsidenten hat, der sehr reich ist. Er ist übrigens einer der bekanntesten Scheidungsanwälte der Schweiz und führt nebenbei einen Teppichladen und eine Model-Agentur. Wir waren sein Hobby. Während andere Männer sich eine Märklin-Eisenbahn kaufen, leistete er sich den Luxus, eine Mini-Gemeinde zu unterhalten, die Sekretärin, den Hausmeister, den Lehrer zu entlohnen und fremde Gäste zu verköstigen.

Die Hälfte der Torarollen war von ihm gespendet. Im Namen seiner Großeltern, der Tanten und Onkel widmete er Gebetsbücher, Schränke, Whiskeys und Teppiche. Wir anderen 14 Mitglieder dankten ihm bei jeder Gelegenheit, waren glücklich über die niedrigen Gemeindesteuern und die vereinzelten Besuche israelischer Mannequins.

Miraculix Unser Präsident war aber nicht nur reich und spendabel, sondern auch der Einzige, der eine anständige Stimme hatte. Wir Heinis hingegen konnten nicht aus der Tora lesen. Der Gottesdienst gehörte also auch ihm. Er nahm die Rolle aus dem Aron Hakodesch und las vor. Wir lauschten ihm und waren glücklich. Wenn man das so sagen darf, dann war er Obelix, Asterix, Majestix und Miraculix in einer Person. Wir hingegen spielten Verleihnix und Automatix.

Aber waren alle Mitglieder handzahm und genügsam? Nein, leider nicht. Mein Vater und ich sträubten sich mit den Jahren gegen diese schleichende Okkupation eines Oligarchen. Wahrscheinlich waren wir neidisch auf das viele Geld und die Mannequins. Andererseits zählt verbissener Widerstand nicht zu unseren Eigenschaften. Wir zeigten unsere Ablehnung sehr verschleiert.

Und zwar beim Kiddusch. Der gehörte natürlich auch dem Präsidenten. Er kam für alkoholische Getränke auf, er machte Kiddusch und war der Erste, der in die Schale mit den Salznüssen greifen durfte. Nach zehn Minuten zischten seine Adlaten: »Psch, psch!« Der Präsident wartete, bis es still wurde und begann zu reden. Denn natürlich war er der Einzige, der den Wochenabschnitt nicht nur gelesen, sondern auch verstanden hatte.

Wackeldackel Mein Vater saß links von ihm, ich rechts. Sobald der Präsident seinen Vortrag eröffnete, schlossen wir unsere Augen und machten auf Wackeldackel. Wir schaukelten unsere Köpfe und summten leise. Nach fünf Minuten brummten wir lauter, und nach zehn Minuten begannen wir zu schnarchen. Ja, so mutig waren wir! Richtig gut leiden konnte uns der Präsident, glaube ich, nie. Ich war aber stolz, dass ich Widerstand leistete.

Mit den Jahren jedoch beginne ich, mich immer mehr dafür zu schämen. Warum, so maßregelt mich mein schlechtes Gewissen, müssen wir Juden unsere Primadonnen eigentlich immer so ungerecht behandeln? Wir murrten gegen Mosche Rabbenu, Michel Friedman, unsere Rabbiner und unsere Mütter. Das ist doch kindisch! Wie ist es nur möglich, dass wir unseren Wegführern so wenig Respekt zollen? Das frage ich mich als Lehrer.

Doppel-Interview

»Wir teilen einen gemeinsamen Wertekanon«

Vor 60 Jahren brachte das Konzilsdokument »Nostra aetate« eine positive Wende im christlich-jüdischen Dialog. Bischof Neymeyr und Rabbiner Soussan blicken auf erreichte Meilensteine, Symbolpolitik und Unüberwindbares

von Karin Wollschläger  25.11.2025

Konzil

»Eine besondere Beziehung«

»Nostra Aetate« sollte vor 60 Jahren die Fenster der katholischen Kirche weit öffnen – doch manche blieben im christlich-jüdischen Dialog verschlossen. Ein Rabbiner zieht Bilanz

von David Fox Sandmel  21.11.2025

Toldot

An Prüfungen wachsen

Warum unsere biblischen Ureltern Hungersnöte und andere Herausforderungen erleben mussten

von Vyacheslav Dobrovych  20.11.2025

Kalender

Der unbekannte Feiertag

Oft heißt es, im Monat Cheschwan gebe es keine religiösen Feste – das gilt aber nicht für die äthiopischen Juden. Sie feiern Sigd

von Mascha Malburg  20.11.2025

Talmudisches

Gift

Was unsere Weisen über die verborgenen Gefahren und Heilkräfte in unseren Speisen lehren

von Rabbinerin Yael Deusel  20.11.2025

Jan Feldmann

Eine Revolution namens Schabbat

Wir alle brauchen einen Schabbat. Selbst dann, wenn wir nicht religiös sind

von Jan Feldmann  19.11.2025

Religion

Rabbiner: Macht keinen Unterschied, ob Ministerin Prien jüdisch ist

Karin Priens jüdische Wurzeln sind für Rabbiner Julian-Chaim Soussan nicht entscheidend. Warum er sich wünscht, dass Religionszugehörigkeit in der Politik bedeutungslos werden sollte

von Karin Wollschläger  19.11.2025

Sachsen-Anhalt

Judenfeindliche Skulptur in Calbe künstlerisch eingefriedet

Die Kunstinstallation überdeckt die Schmähfigur nicht komplett. Damit soll die Einfriedung auch symbolisch dafür stehen, die Geschichte und den immer wieder aufbrechenden Antisemitismus nicht zu leugnen

 19.11.2025

USA

6500 Rabbiner auf einem Foto

»Kinus Hashluchim«: Das jährliche Treffen der weltweiten Gesandten von Chabad Lubawitsch endete am Sonntag in New York

 17.11.2025