Korrespondenz

»Gegenseitiges Verstehen«

»Kontroverse messianische Verheißung«: Papst emeritus Benedikt XVI. Foto: Getty Images

Korrespondenz

»Gegenseitiges Verstehen«

Benedikt XVI. antwortet auf den Text von Rabbiner Folger in der Jüdischen Allgemeinen

 08.10.2018 19:55 Uhr

Sehr geehrter Herr Rabbi Folger! Professor Tück von der Universität Wien hat mir Ihren Beitrag »Gefahr für den Dialog« zugesandt, und ich kann Ihnen für diesen wichtigen und sachlich weiterführenden Beitrag nur sehr herzlich danken.

Sie haben zunächst das Genus meines Textes erklärt. Er ist ein Dokument für den theologischen Disput zwischen Juden und Christen um das rechte Verständnis der Verheißungen Gottes an Israel: Das Christentum gibt es überhaupt nur, weil nach der Zerstörung des Tempels und im Anschluß an Leben und Sterben Jesu von Nazareth sich um Jesus eine Gemeinschaft gebildet hat, die überzeugt war, daß die hebräische Bibel als Ganzes von Jesus handle und auf ihn hin auszulegen sei.

Disput Diese Überzeugung wurde aber von der Mehrheit des jüdischen Volkes nicht geteilt. So ist der Disput darüber entstanden, ob die eine oder die andere Auslegung richtig sei. Leider ist dieser Disput von Seiten der Christen häufig oder fast immer nicht in der gebotenen Ehrfurcht für die andere Seite geführt worden.

Statt dessen hat sich die traurige Geschichte des christlichen Antijudaismus gebildet, die schließlich in den antichristlichen Antijudaismus der Nazis mündet und mit Auschwitz als traurigem Höhepunkt vor uns steht.

Inzwischen ist es wichtig, daß der Dialog über die rechte Auslegung der Bibel des jüdischen Volkes zwischen den beiden Gemeinschaften weitergeführt wird, deren Glaube auf dieser Auslegung beruht. Eine wichtige methodische Grundlage für diesen Dialog bildet das Dokument der Päpstlichen Bibelkommission »Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift in der christlichen Bibel« vom 24.5.2001, das ich in meinen Darlegungen als methodische Grundlage voraussetze.

Nach menschlicher Voraussicht wird dieser Dialog innerhalb der weitergehenden Geschichte nie zu einer Einheit der beiden Interpretationen führen: Das ist die Sache Gottes am Ende der Geschichte. Inzwischen bleibt es beiden Seiten aufgetragen, um die rechte Erkenntnis zu ringen und die Auffassung der je anderen Seite ehrfürchtig zu bedenken.

Verheißungen Der zentrale Inhalt des Gesprächs werden die großen Verheißungen Gottes an Israel sein, die ich in meinem Beitrag in folgenden Stichworten zusammengefaßt habe: die messianische Hoffnung Israels; das Land; der Bund; die ethische Weisung und die rechte Verehrung Gottes. Lassen Sie mich bitte noch einmal kurz andeuten, was ich zum christlichen Verständnis dieser Themen in meinem Paper vorzutragen versucht habe.

1. Natürlich wird die messianische Verheißung immer kontrovers bleiben. Dennoch glaube ich, daß es Fortschritte im gegenseitigen Verstehen geben kann. Ich habe versucht, das Ganze der messianischen Verheißungen in ihrer Vielgestalt neu aufzufassen und damit das Schon und Noch-Nicht der Hoffnung in ihrer inneren Durchdringung neu zu verstehen.

Die auf die Gestalt Davids gründende Form der messianischen Erwartung bleibt gültig, aber wird in ihrer Bedeutung eingeschränkt. Die maßgebende Hoffnungsgestalt ist für mich Mose, von dem die Schrift sagt, er habe mit dem Herrn wie ein Freund von Gesicht zu Gesicht gesprochen. Jesus von Nazareth erscheint uns Christen als die zentrale Hoffnungsgestalt, weil er mit Gott auf Du und Du steht.

Von dieser neuen Sicht her erscheint die Zeit der Kirche nicht als Zeit einer schon endgültig erlösten Welt, sondern die Zeit der Kirche ist für die Christen das, was für Israel die 40 Wüstenjahre waren. Ihr wesentlicher Inhalt ist demnach die Einübung in die Freiheit der Kinder Gottes, die für die »Völker« nicht minder schwierig ist, als sie für Israel gewesen war. Wenn man diese neue Sicht der Zeit der Völker annimmt, wird eine Theologie der Geschichte angeboten, die die Juden wohl nicht als solche annehmen können, aber vielleicht doch eine neue Stufe im gemeinsamen Ringen mit unserem Auftrag bieten kann.

Israel 2. Eine angemessene Interpretation der Landverheißung ist heute im Kontext mit der Entstehung des Staates Israel für alle Seiten lebenswichtig. Ohne alles das zu wiederholen, was ich in meinem Text gesagt habe, möchte ich die nicht nur für Christen wichtige These wiederholen, daß der Staat Israel als solcher nicht theologisch als die Erfüllung der Landverheißung eingestuft werden kann, sondern an sich ein säkularer Staat ist, der freilich durchaus religiöse Grundlagen hat.

Für die Väter des Staates Israel – Ben Gurion, Golda Meir usw. – war ganz klar, daß der Staat, den sie geschaffen haben, ein säkularer Staat sein mußte – einfach schon, weil er nur so überleben konnte. Ich glaube, daß die Entwicklung der Idee des säkularen Staats wesentlich auch jüdischem Denken zu verdanken ist, wobei säkular nicht antireligiös bedeutet.

Der Heilige Stuhl konnte diplomatische Beziehungen zum Staat Israel nur unter dieser Voraussetzung aufnehmen. Und der Disput mit den Arabern sowie die Suche nach einem friedlichen Zusammenleben mit ihnen sind ebenfalls an diese Auffassung gebunden. Es ist, glaube ich, nicht schwer zu sehen, daß sich so in der Entstehung des Staates Israel doch auf eine geheimnisvolle Weise die Treue Gottes zu Israel erkennen läßt.

Moral 3. In Sachen Moral und Kult können wir meines Erachtens heute eine viel größere Zusammengehörigkeit von Israel und Kirche erkennen als bisher. Das ganze Thema ist seit dem Beginn der Neuzeit überschattet von dem antijudaistischen Denken Luthers, für den das Nein zum Gesetz seit dem Turmerlebnis wesentlich war.

Dieses Erlebnis, das für ihn existenzprägend war, hat sich mit dem Denken Markions verbunden und einen pseudoreligiösen Markionismus hervorgebracht, mit dem der Streit noch nicht wirklich aufgenommen worden ist. Mir scheint, daß gerade in diesem Punkt wichtige Möglichkeiten für ein erneuertes Gespräch mit dem Judentum liegen.

Sehr geehrter Herr Rabbi, ich bin zu lang geworden und bitte Sie um Entschuldigung dafür. Mit meinem nochmaligen Dank für Ihren Text bin ich Ihr Benedikt XVI.

Der Briefwechsel »Gnade und Berufung ohne Reue« – unter diesem Titel ist in Heft 4/2018 der katholischen Zeitschrift »Communio« ein Artikel von Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. erschienen, der in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert wurde. Er befasst sich mit der Frage, wie – 50 Jahre nach Nostra Aetate – der Dialog mit den Juden theologisch vertieft werden kann. Der Aufsatz Joseph Ratzingers/Benedikts XVI. hat vielfältige, teils kritische Resonanz hervorgerufen. Überdies ist er zum Gegenstand eines aktuellen jüdisch-christlichen Dialogs geworden.

Der Wiener Oberrabbiner Arie Folger hat in der Jüdischen Allgemeinen eine Replik veröffentlicht, auf die Benedikt XVI. am 23. August 2018 in einem persönlichen Brief ausführlich geantwortet hat. Die Jüdische Allgemeine dokumentiert auf dieser Seite mit freundlicher Genehmigung von »Communio« den Brief Benedikts XVI. und Auszüge aus einer Antwort Rabbiner Folgers auf den Brief vom 4. September 2018.

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