Auch wenn der Wind, metaphorisch gesprochen, rauer geworden ist, werden in diesem Jahr diejenigen, die es können, eine Sukka errichten. Die Laubhütte ist schon von Weitem zu sehen. Oft wissen die Nachbarn ohnehin, dass eine Familie jüdisch ist, auch wenn sie die Konfession der anderen Nachbarn nicht kennen.
Es heißt, Menschen akzeptieren diejenigen, die ihre Tradition leben. Manchmal verunsichert das, und manchmal nötigt es ihnen Respekt ab. An dieser Stelle bleiben nur Selbstbewusstsein und die Auseinandersetzung damit, was die Sukka alles ist.
Warum feiern wir Sukkot in »Sukkot«, also Laubhütten? In der Tora heißt es: »In Sukkot sollt ihr wohnen sieben Tage; alle Bewohner in Israel sollen wohnen in Hütten. Damit künftige Generationen es erfahren, dass Ich in Sukkot habe wohnen lassen die Kinder Israels, als Ich sie herausgeführt habe aus dem Land Ägypten; Ich bin der Ewige, euer Gʼtt« (3. Buch Mose 23, 42–43).
Die Tora berichtet allerdings mehrfach, dass die Kinder Israels während ihrer Wanderung in »Zelten« (Ohalim) übernachteten. »Übernachteten«, weil das Wort »wohnen« schon einen längeren Verbleib an einem Ort meinen könnte. Viele Beterinnen und Beter kennen die Beschreibung des Lagers in der Tora aus dem »Ma Towu«, einem Zitat aus dem 4. Buch Mose: »Ma towu ohalejcha Jisrael – Wie schön sind deine Zelte, Israel!« (24,5).
Es wird auch Folgendes berichtet: »Wenn Mosche hinausging zu einem Zelt, erhob sich das ganze Volk und stand, jeder an dem Eingange seines Zeltes, und schaute Mosche nach, bis er in das Zelt kam« (2. Buch Mose 33,8).
Geht es darum, sich den Elementen oder den Blicken der anderen auszuliefern?
Ist also das Sitzen in den Sukkot »nur« der Nachvollzug der Wanderung? Geht es darum, dich den Elementen auszuliefern? Oder auch den Blicken der anderen?
Vielleicht ist es genau (auch) das Gegenteil. Denn vielleicht stehen die Sukka und das darin verbrachte Fest weniger für das bloße Ausgesetztsein als vielmehr für das bewusste Eintreten in einen Schutzraum, den Gʼtt für uns bereitet hat – einen Raum, der sich in der jüdischen Tradition immer wieder verwandelt, von der Wüste über die Stiftshütte bis hin zum Tempel in Jerusalem.
Im Buch Jeschahaju (4, 5–6) heißt es: »Dann schafft der Ewige über die ganze Wohnstätte des Berges Zion und über seine Versammlungsorte eine Wolke für den Tag und Rauch und Glanz von Feuerflammen für die Nacht; denn über all der Herrlichkeit wird ein Schutz sein. Und eine Sukka wird sein zur Beschattung am Tag vor der Glut, zum Schutz und zur Zuflucht vor Güssen und vor Regen.«
Das erklärt uns eine Anmerkung von Raschi (1040–1105) zum oben zitierten Vers aus der Tora mit der Aufforderung, eine Sukka zu errichten: »Dies bedeutet nicht wörtlich ›Hütten‹, sondern ›die Wolken der Herrlichkeit‹ (Ananej HaKawod), durch die sie beschützt wurden.«
Raschi hat diese Idee aus dem Talmud. Dort (Sukka 11b) wird diskutiert, was »Sukka« eigentlich bedeutet. Rabbi Elieser sagt, damit sei keine temporäre »Hütte« gemeint: »Allerdings nach demjenigen, der sagt, es waren Wolken der Herrlichkeit, wie ist dies aber nach demjenigen zu erklären, der sagt, sie hatten sich wirkliche Hütten gefertigt!? Es wird nämlich gelehrt: Denn in Hütten habe Ich die Kinder Israels wohnen lassen, es waren Wolken der Herrlichkeit.«
Im Midrasch (Sifra, Emor 17) wird das noch einmal explizit dargestellt: »Rabbi Elieser sagt, dass es sich buchstäblich um Hütten handelte; Rabbi Akiva sagt, dass es sich um Wolken der Herrlichkeit handelte. ›Als Ich sie aus dem Land Ägypten herausführte‹: Damit wird uns gelehrt, dass sogar die Sukka eine Erinnerung an den Auszug aus Ägypten ist.«
Rabbi Akiva meint wortwörtlich, die Israeliten wohnten in provisorischen Hütten aus natürlichen Materialien. Im Talmud sind zwei konkurrierende Sichtweisen zu erkennen: Die Sukka wird zum Symbol für gʼttlichen Schutz oder für menschliches Improvisationsvermögen.
Statt der Natur »ausgeliefert«, ist der Mensch mit und in der Natur geschützt.
Nachmanides, der Ramban (1194–1270), bringt beide Sichtweisen in seinem Kommentar zur Tora zusammen: »So gebot Er, dass wir am Anfang des Sommers an den Auszug aus Ägypten durch die Benennung des Monats und durch die Feier von Pessach erinnern, und ferner gebot Er die Erinnerung an das beständige Wunder, das während der gesamten Zeit ihres Aufenthalts in der Wüste geschah, am Anfang des Winters. Und nach der Meinung des Weisen, der sagt, sie hätten sich tatsächlich Hütten gemacht, müssen wir erklären, dass der Grund, warum dieses Gebot am Beginn des Winters gehalten wird, darin liegt, dass sie begannen, die Sukkot wegen der Kälte am Anfang des Winters herzustellen, wie es in Lagern üblich ist, und deshalb gebot Er, dass auch wir sie zu dieser Zeit machen. Der Sinn der Erinnerung ist, dass alle wissen und sich daran erinnern sollen, dass sie in der Wüste lebten, nicht in Häusern wohnten und keine Stadt zum Wohnen fanden 40 Jahre lang, aber Gʼtt war bei ihnen, und es fehlte ihnen an nichts.«
Der ursprüngliche paradiesische Zustand von Nähe zur Natur und zu Gʼtt
Wir verlassen also die naheliegende Interpretation, dass der zeitlich beschränkte Charakter der Sukka uns mitteilen solle, alles sei vergänglich und temporär. Wie sollte das auch zu einem Fest passen, bei dem zum Tempel gepilgert werden sollte. Statt der Natur »ausgeliefert«, ist der Mensch mit und in der Natur und dennoch geschützt. Das durchlässige Dach mit Blättern darauf und die Verwendung natürlichen Materials erinnert an den ursprünglichen paradiesischen Zustand von Nähe zur Natur und zu Gʼtt.
Doch eine Rückkehr zum Zustand im Paradies ist nicht mehr möglich. Lediglich die Erinnerung daran. Seit der Vertreibung der Menschen wird der Eingang zum Paradies von Cherubim bewacht (1. Buch Mose 3,24). Es gibt keinen Weg zurück, und dennoch ist dieser Ort das Idealbild der Verbundenheit mit Gʼtt. Die Cherubim sind ein Hinweis auf die direkte Verbindung dieses Ortes mit der Stiftshütte, auch hier werden die Cherubim für die Lade mit den Tafeln verwendet. Diese wiederum ist ein Vorbild des Tempels. Beide sind symbolische Wohnstätten Gʼttes und symbolisieren Nähe. Die Stiftshütte, die mitten im Lager errichtet wurde, bringt diese Nähe auf den Weg; der Tempel in Jerusalem verankerte sie dauerhaft im Herzen des Landes.
Sie symbolisieren zugleich den Berg Sinai, und auch dieser ist wiederum eine Erinnerung an das Paradies. Der Tempel, gebaut nach dem Vorbild der Stiftshütte, trägt in seiner gesamten Symbolik die Erinnerung an den Berg Sinai in sich – den Ort, an dem sich gʼttliche und menschliche Wirklichkeit zum ersten Mal nach Eden wieder direkt begegneten. In den Ritualen, Opferungen und der Anordnung des Heiligtums lebt das Echo des Sinai fort. Am Sinai wurde die Tora empfangen, und im Tempel wurde dieser transformative Moment neu inszeniert. Der Tempel wurde deshalb auch mit Zedern als Baumaterial gefertigt. Denn diese stehen symbolisch für das Paradies (Tehillim 104,16): »Es sättigen sich die Bäume des Ewigen, Libanons Zedern, die er gepflanzt.« Raschi schreibt hier: »die Bäume im Garten Eden«.
Den Kreis schließen dann aber die anderen Aspekte von Sukkot. Es ist ein Wallfahrtsfest. Das jüdische Volk zog an diesem Fest zum Tempel – dieser bildete das Zentrum der spirituellen Identität. Sukkot ist auch mit der Einweihung von Erstem und Zweitem Tempel verbunden (1. Buch Könige 8,2; Esra 3,4; Nechemja 8,18).
Maimonides, der Rambam (1138–1204), bringt alles in den Hilchot Bejt haBechirah (2,2) zusammen: »Es ist allgemein anerkannt, dass der Ort, an dem David und Schlomo den Altar errichteten, die Tenne Ornans, derselbe Ort ist, an dem Awraham den Altar errichtete, auf dem er Jizchak zum Opfer vorbereitete. Noach errichtete an dieser Stelle einen Altar, als er die Arche verließ. Es war auch der Ort des Altars, auf dem Kajin und Hewel Opfer darbrachten. Ebenso brachte Adam, der erste Mensch, dort ein Opfer dar und wurde genau an dieser Stelle erschaffen, wie unsere Weisen sagten: ›Der Mensch wurde an dem Ort erschaffen, an dem er Sühne finden würde.‹«
Jede Sukka, so sehr sie den Blicken ausgesetzt ist, bietet einen Schutzraum für die Seele.
Die Sukka erinnert also an den Weg von der direkten Begegnung mit Gʼtt über den Berg Sinai, die Stiftshütte, den Tempel in die heutige Zeit – in der wir nurmehr die Erinnerung daran haben.
Und so kehrt Sukkot jedes Jahr zurück – manchmal bei rauem Wind und manchmal in milder Herbstsonne. Die Sukka steht in Hinterhöfen, auf Balkonen, in Gärten oder auf städtischen Terrassen. Sie ist sichtbar und vielleicht fragil, aber ein Zeichen für Zugehörigkeit und für jene Verbundenheit, die die Zeit überdauert. Wer heute eine Sukka betritt, tritt ein in eine jahrtausendelange Geschichte: Man isst, singt, feiert, und manchmal schläft man unter Blättern und Sternen.
Vielleicht ist das der wahre Sinn: Gerade in einer Welt, in der Gewissheiten schwinden und feste Mauern wieder errichtet werden, lädt Sukkot dazu ein, sich auszusetzen – nicht um verloren zu gehen, sondern um darin Geborgenheit zu finden. Jede Sukka, so sehr sie den Blicken ausgesetzt ist, ist ein Schutzraum für die Seele. Die Gemeinschaft, das Gespräch, das gemeinsame Essen – all das wird zum Echo einer Erinnerung an das Paradies, zum Nachhall des Tempels und zur Erinnerung an den Sinai.
Sie verbindet die Menschen von drinnen und draußen, von gestern und morgen. Sie lehrt, dass Schutz nicht aus Stein besteht, sondern aus Vertrauen, Erinnerung und Hoffnung. Und wenn draußen der Wind stärker wird, bleibt drinnen ein leiser Trost: In der Sukka sind wir für einen Moment nicht allein, sondern Teil einer Geschichte, die nie vergeht.
Der Autor ist Herausgeber von »talmud.de« und lebt in Gelsenkirchen.