Talmudisches

Geboren werden – oder lieber nicht?

»Gegen deinen Willen wurdest du geboren, und gegen deinen Willen wirst du sterben« (Pirkej Awot 4, 29) Foto: Getty Images/iStockphoto

Talmudisches

Geboren werden – oder lieber nicht?

Wie Hillel und Schammai zur Erschaffung des Menschen standen

von Chajm Guski  07.05.2020 12:50 Uhr

In dem sowjetischen Fernsehfilm Ironie des Schicksals (1975) singt der Protagonist Schenja ein Lied, in dem es recht zynisch heißt: »Wenn du kein Haus hast, dann kann es nicht abbrennen. Wenn du keinen Hund hast, kann der Nachbar ihn nicht vergiften.« Es folgen weitere Abwägungen, und dann endet das Lied mit: »Wenn du niemals lebst, dann kannst du nicht sterben.«

Das klingt nicht sehr aufbauend, stellt aber − natürlich augenzwinkernd − fest, was wir schon in der Mischna lesen. Dort formuliert Rabbi Eleasar Hakappa: »Gegen deinen Willen wurdest du geboren, und gegen deinen Willen wirst du sterben« (Pirkej Awot 4, 29).

Auch die beiden großen Gelehrten Hillel und sein Gegenspieler Schammai debattierten darüber: »Zweieinhalb Jahre waren das Haus Schammai und das Haus Hillel unterschiedlicher Meinung. Jene sagten: Es wäre besser gewesen, der Mensch wäre nicht erschaffen worden, als dass er erschaffen wurde. Und die anderen sagten: Es ist besser, dass der Mensch erschaffen worden ist, als dass er nicht erschaffen worden wäre« (Eruwin 13b)

SPEKULATION Leider können wir nicht Zeugen dieser Diskussion werden, es gibt kein Protokoll des Schlagabtauschs. Vielleicht hätte das Haus Schammai darauf beharrt, dass der Mensch in seinem Ursprung hätte bleiben müssen, also bei G’tt.

Diese Spekulation kann man anstellen, wenn man eine andere Diskussion betrachtet, bei der Hillel und Schammai ebenfalls nichts Halachisches diskutieren: »Was wurde zuerst erschaffen, Himmel oder Erde?« (Chagiga 12a).

Hier gibt Schammai dem Himmel den Vorzug und zitiert einen Vers des Propheten Jeschajahu (66,1): »Der Himmel ist mein Thron und die Erde der Schemel meiner Füße.« Die Hauptsache für ihn ist der Himmel. Das Haus Hillel richtet den Blick auf diese Welt und vertritt den Optimismus, der vielen Diskussionen im Talmud, ja, auch des Judentums insgesamt, innewohnt: Machen wir das Bestmögliche aus der Existenz.

DISKUSSION Doch zurück zur konkreten Diskussion. Diese wird auf sehr ungewöhnliche Weise beendet, jedenfalls für den Talmud: Es wird abgestimmt.

Die Abstimmung gewinnt das Haus Schammai, und die Entscheidung lautet: »Es wäre besser, der Mensch wäre nicht erschaffen worden, als dass er erschaffen wurde.«

Dann fügen die Weisen an: »Jetzt, da er erschaffen wurde, sollte er seine Taten prüfen.« Und andere sagen: »Er sollte seine Handlungen erwägen.«

Wenngleich »prüfen« und »erwägen« eine ähnliche Bedeutung haben, hat etwa der Kommentator Rabbiner Jom Tow ben Awraham Isbilli, genannt Ritwa (1250–1320) angemerkt, man solle seine bisherigen Taten prüfen und seine zukünftigen genau abwägen.

Zusammengefasst in anderen Worten: Es wäre besser gewesen, nicht geboren zu werden, aber wenn wir schon einmal hier sind, dann müssen wir das Beste daraus machen.

Der Pragmatismus der Weisen des Talmuds ist zurück! Alles andere wäre zu verstörend. So sahen das wohl auch frühere Kommentatoren, deshalb versuchen sie, die Stelle etwas zu relativieren. So heißt es in den Tosafot zu der Stelle, die Diskussion beziehe sich auf schlechte Menschen. Das Leben guter Menschen sei durchaus ein Gewinn.

Ganz sachlich fährt der Talmud anschließend mit einer Diskussion über Querbalken fort und ist wieder mitten im Leben. Man hat zweieinhalb Jahre diskutiert, ist zu einem wenig aufbauenden Ergebnis gekommen und hat beschlossen, das Beste daraus zu machen.

Auch Schenja, der singende Protagonist unseres Films, ist nicht entmutigt, sondern kommt am Ende natürlich mit der richtigen Frau zusammen und macht das Beste daraus.

München

Knobloch lobt Merz-Rede in Synagoge

Am Montagabend wurde in München die Synagoge Reichenbachstraße wiedereröffnet. Vor Ort war auch der Bundeskanzler, der sich bei seiner Rede berührt zeigte. Von jüdischer Seite kommt nun Lob für ihn - und ein Appell

von Christopher Beschnitt  16.09.2025

Rosch Haschana

Jüdisches Neujahrsfest: Bischöfe rufen zu Verständigung auf

Stäblein und Koch betonten in ihrer Grußbotschaft, gerade jetzt dürfe sich niemand »wegducken angesichts von Hass und Antisemitismus«

 16.09.2025

Bayern

Merz kämpft in Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  17.09.2025 Aktualisiert

Ki Tawo

Echte Dankbarkeit

Das biblische Opfer der ersten Früchte hat auch für die Gegenwart eine Bedeutung

von David Schapiro  12.09.2025

Talmudisches

Schabbat in der Wüste

Was zu tun ist, wenn jemand nicht weiß, wann der wöchentliche Ruhetag ist

von Yizhak Ahren  12.09.2025

Feiertage

»Zedaka heißt Gerechtigkeit«

Rabbiner Raphael Evers über Spenden und warum die Abgabe des Zehnten heute noch relevant ist

von Mascha Malburg  12.09.2025

Chassidismus

Segen der Einfachheit

Im 18. Jahrhundert lebte in einem Dorf östlich der Karpaten ein Rabbiner. Ohne je ein Werk zu veröffentlichen, ebnete der Baal Schem Tow den Weg für eine neue jüdische Strömung

von Vyacheslav Dobrovych  12.09.2025

Talmudisches

Stillen

Unsere Weisen wussten bereits vor fast 2000 Jahren, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt

von David Schapiro  05.09.2025

Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Ethan Tucker leitet eine Jeschiwa, die sich weder liberal noch orthodox nennen will. Kann so ein Modell auch außerhalb New Yorks funktionieren?

von Sophie Goldblum  05.09.2025