Wajakhel

Gʼttliches Licht

Foto: Getty Images/iStockphoto

Zu Beginn des Wochenabschnitts Wajakhel versammelt Mosche die Kinder Israels und erinnert sie daran, den Schabbat zu halten. Danach wird das Volk zu Spenden für den Bau des Mischkan, des tragbaren Tempels, aufgerufen. Laut dem mittelalterlichen Kommentator Raschi (1040–1105) werden die beiden Themen gemeinsam erwähnt, um uns zu lehren, dass uns der Bau des Mischkan, trotz all seiner Wichtigkeit, nicht das Recht gibt, den Schabbat zu brechen.

Der Talmud weist auf eine weitere Verbindung zwischen dem Bau des Mischkan und dem Schabbat hin: Im Traktat Schabbat (70a) wird bemerkt, dass das Wort »Melacha«, das man mit »kreative oder schaffende Arbeit« übersetzen kann, sowohl in der Textstelle über den Abschluss der Schöpfung Gʼttes vor dem ersten Schabbat vorkommt (1. Buch Mose 2, 1–3) als auch in der Textstelle über den Bau des Mischkan (2. Buch Mose 31,3). Daraus lernt der Talmud, dass die 39 Arbeiten, die beim Bau des Mischkan verrichtet wurden, auch diejenigen Arbeiten sind, die am Schabbat verboten sind.

Verrichtungen wie Pflanzen, Kneten und Sortieren waren nötig für den Bau des Mischkan und sind daher am Schabbat untersagt, auch wenn sie nicht direkt in der Tora erwähnt werden.

Verrichtungen, die für den Bau des Mischkan nötig waren, sind am Schabbat untersagt

Das Konzept, das die Weisen des Talmuds in diesem Fall anwenden, um zwei scheinbar unverbundene Themengebiete miteinander zu verknüpfen, heißt Gzeira Schava (deutsch: gleiches oder ähnliches Urteil). Es ist eine der 13 überlieferten Regeln zur Interpretation der Tora und bedeutet: Wenn ein Wort, das für ein Themengebiet sonderbar erscheint, auch in einem anderen Themengebiet verwendet wird (in unserem Fall das Wort »Melacha«), so sind die beiden Themengebiete – in unserem Fall die Schöpfung und der Bau des tragbaren Tempels – inhaltlich und/oder rechtlich miteinander verknüpft.
Ein sorgsamer Blick zeigt, dass die in der Tora verwendete Wortwahl typisch ist für eine enge Verknüpfung der Themen Schöpfung und Schabbat auf der einen und Bau des Mischkan auf der anderen Seite.

In der Kabbala wird gelehrt, dass das Licht Gʼttes, das auch das »unendliche Licht« genannt wird und für eine dem menschlichen Verstand unbegreifliche Essenz des Gʼttlichen steht, durch vier Welten gefiltert wird.

Das Filtern dieses Lichts erlaubt es uns endlichen Wesen, in einer Welt zu leben, in der die freie Wahl und die Existenz als Individuum möglich sind, und dies ohne, dass wir vom gʼttlichen Licht überwältigt und annulliert werden.

Das Filtern dieses Lichts erlaubt es uns, in einer Welt zu leben, in der die freie Wahl und die Existenz als Individuum möglich sind

In jeder dieser Welten (Atzilut, Brija, Jetzira und Asija genannt) gibt es zehn Energien, die in der kabbalistischen Literatur als Sefirot bezeichnet werden. Durch diese Energien leitet Gʼtt die Welten, die man als »Welten in den Welten« bezeichnen kann. Durch die Welten und Sefirot fließen die Ereignisse und Veränderungen in unser Leben. Dank ihnen werden die Entscheidungen Gʼttes von oben nach unten in unsere Welt gebracht.
Im Werk Reschit Chochma (9,17) schreibt der Kabbalist Rabbi Elijahu de Vidas (1518–1587), dass sich unsere gesamte physische Welt in der zehnten und letzten Sefira (Malchut) der tiefsten Welt (Asija) befindet.
Dementsprechend ist jede gʼttliche Veränderung, die in unsere Welt hineinkommt, das Resultat von 39 Sefirot, die auf die vierzigste, auf unsere Sefira, einwirken: 39 einwirkende Kräfte und eine, die einzig und allein empfängt.

Im Wort »Mischkan« steckt das Verb »lischchon«, was »wohnen« bedeutet. Gʼtt will durch den Mischkan und später auch durch den Tempel unter uns wohnen. Die Präsenz Gʼttes in unserer Welt wird in der Kabbala »Schechina« genannt – ebenfalls ein Wort, das mit »Wohnen« verwandt ist.

Mischkan bedeutet also: Das gʼttliche Licht fließt durch all die 39 Sefirot, um in der vierzigsten Sefira zu wohnen. Die Schöpfung auf der anderen Seite ist nichts anderes als ein Akt des Energie­flusses durch die 39 Sefirot – aus der Unendlichkeit bis hin zur letzten und vierzigsten Sefira.

Die Aufgabe der 39 oberen Sefirot ist es, das gʼttliche Licht adäquat durchzulassen. Der Auftrag der vierzigsten Sefira ist es, zu leuchten und allem, was es zuvor empfangen hat, einen adäquaten Ausdruck zu geben.

Der Auftrag der vierzigsten Sefira ist es, zu leuchten

Der Mischkan und der Tempel im Raum und der Schabbat in der Zeit sind Konzepte, die nach einem Prozess der Schöpfung (39 Sefirot – 39 Melachot) entstanden sind und nun alles, was sie in diesem Prozess empfangen haben, manifestieren.

Vielleicht ist deswegen jeder Prozess der Neuschöpfung in der Tora mit der Zahl 40 verwandt: 40 Tage dauerte die Flut in der Geschichte von Noach, 40 Tage brauchte es, bis die Kinder Israels die Zehn Gebote physisch empfangen konnten, nachdem sie diese bereits am Berg Sinai gehört hatten. 40 Tage flehte Mosche nach der Sünde mit dem Goldenen Kalb um Vergebung. 40 Tage wanderten die Kundschafter durch das Land Israel, und 40 Jahre dauerte die Wüstenwanderung.

In jedem dieser Fälle entsteht quasi eine neue Schöpfung, die durch die Zahl 40 ausgedrückt wird, so wie auch der gesamte Schöpfungsprozess durch das Zusammenspiel von 40 Sefirot geschieht.

Ein weiterer spannender Zusammenhang: Im Schmone-Esre-Gebet bezeichnen wir Gʼtt von Simchat Tora bis Pessach (also im Winter) als den, »der den Wind (beziehungsweise Geist) zurückbringt und den Regen (beziehungsweise Materialismus) herunterfallen lässt«. Im Sommer sagen wir hingegen: »Morid haTal« – der den Tau fallen lässt.

Rabbi Chaim Vital (1542–1620) erklärt, dass die Unterschiede im Gebet dadurch begründet werden können, dass die Wintermonate »gebende Monate« sind und die Sommermonate »Empfänger«. Die spirituellen Energien, die im Sommer herunterfließen, sind in gewisser Weise abhängig von unseren Bemühungen in den Wintermonaten. So wird Gʼtt im Sommer als derjenige bezeichnet, der den Tau hinunterbringt – hebräisch »Tal« (Zahlenwert 39).

Der Autor ist Religionslehrer und Sozialarbeiter der Jüdischen Gemeinde Osnabrück.

INHALT
Im Wochenabschnitt Wajakhel werden die Israeliten daran erinnert, dass sie das Schabbatgesetz nicht übertreten sollen. Die Künstler Bezalel und Oholiab sollen aus freiwilligen Spenden Geräte für das Stiftszelt herstellen, und es wird die Bundeslade angefertigt.
2. Buch Mose 35,1 – 38,20

Berlin/Potsdam

Zentralrat der Juden erwartet Stiftung für Geiger-Kolleg im Herbst

Zum Wintersemester 2024/25 soll sie ihre Arbeit aufnehmen

 26.07.2024

Potsdam

Neuer Name für das Abraham Geiger Kolleg bekannt geworden

Die Ausbildungsstätte für liberale Rabbiner soll nach Regina Jonas benannt werden

 26.07.2024

Pinchas

Der Apfel fällt ganz weit vom Stamm

Wie es passieren konnte, dass ausgerechnet ein Enkel Mosches dem Götzendienst verfiel

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  26.07.2024

Talmudisches

Das Leben im Schloss

Was unsere Weisen über die Kraft des Gebetes lehren

von Vyacheslav Dobrovych  26.07.2024

Armeedienst

Beten oder schießen?

Neuerdings werden in Israel auch Jeschiwa-Studenten rekrutiert. Unser Autor ist orthodoxer Rabbiner und sortiert die Argumente der jahrzehntelangen Debatte

von Rabbiner Dovid Gernetz  25.07.2024

Kommentar

Der »Spiegel« schreibt am eigentlichen Thema vorbei

In seiner Berichterstattung über das Abraham-Geiger-Kolleg konstruiert das Magazin eine Konfliktlinie

von Rebecca Seidler  25.07.2024 Aktualisiert

Ethik

Auf das Leben!

Was ist die Quintessenz des Judentums? Der Schriftsteller Ernest Hemingway hatte da eine Idee

von Daniel Neumann  19.07.2024

Balak

Verfluchter Fluch

Warum der Einsatz übernatürlicher Kräfte nicht immer eine gute Idee ist

von Rabbinerin Yael Deusel  19.07.2024

Talmudisches

Chana und Eli

Über ein folgenreiches Gespräch im Heiligtum

von Rabbiner Avraham Radbil  19.07.2024