Der Wochenabschnitt Mikez erzählt von der Verwandlung Josefs – vom Gefangenen zum Herrscher über Ägypten. Josef deutet die Träume des Pharaos von den sieben fetten und sieben mageren Kühen und sagt damit sieben Jahre des Überflusses und sieben Jahre der Hungersnot voraus. Dank Josefs Weisheit bereitet sich Ägypten auf die Hungersnot vor, und bald kommen Menschen aus allen Ländern, um Brot zu kaufen. Unter ihnen sind auch Josefs Brüder, die nicht ahnen, dass der Mann, der vor ihnen steht, ebenjener Bruder ist, den sie einst verkauft haben.
Von diesem Moment an beginnt der zweite, tiefergehende Teil der Geschichte. Es ist nicht nur eine Begegnung zwischen Verwandten – es ist eine Konfrontation mit der Vergangenheit, mit Schuldgefühlen und der alten Wunde im Herzen des Volkes Israel. Denn gerade der Streit zwischen den Brüdern war der Grund für das erste Exil.
Neid, Kränkung und Misstrauen spalteten die Brüder
Warum verkauften die Brüder Josef? Die Weisen erklären: Jakow zeigte Josef besondere Liebe und schenkte ihm ein schönes Gewand. Wie Raschi und Onkelos schreiben, war Josef begabt und verstand die Lehre in größerer Tiefe als die anderen. Der Vater wollte seinen Eifer belohnen. Doch die Brüder sahen darin Ungerechtigkeit. Neid, Kränkung und Misstrauen spalteten sie (Bereschit Rabba 84,8).
Hinzu kamen Josefs Träume, in denen sich die Brüder vor ihm verneigen. Josef erzählte sie ohne böse Absicht, doch die Brüder sahen darin ein Zeichen von Überheblichkeit. Sie glaubten, Josef wolle über sie herrschen, und betrachteten ihn als Bedrohung.
Wie Raschi erklärt, sahen die Brüder in seinen prophetischen Träumen keine g’ttliche Offenbarung über zukünftige Rettung, sondern einen Ausdruck von Stolz.
Jahre vergehen. Josef wird der zweitmächtigste Mann in Ägypten. Das Schicksal führt ihn erneut mit seinen Brüdern zusammen. Er erkennt sie, doch sie erkennen ihn nicht. Josef offenbart sich nicht sofort. Er stellt sie auf die Probe: Er beschuldigt sie der Spionage, fordert, Benjamin zu bringen, und hält Schimon zurück.
Prüfung der Einheit
Wie Nachmanides, der Ramban, erklärt, war dies eine Prüfung der Einheit. Josef wollte wissen, ob die Brüder mit Benjamin so umgehen würden wie einst mit ihm – oder ob sie gelernt hatten, füreinander einzustehen. Nur so konnte er sehen, ob sie sich zum Besseren gewandelt hatten.
Als die Brüder mit Benjamin zurückkehren, lässt Josef seinen Becher in Benjamins Sack legen und beschuldigt ihn des Diebstahls. Nun entscheidet sich alles: Werden sie Benjamin im Stich lassen – wie einst Josef?
Diesmal handeln sie anders. Jehuda, der einst den Verkauf Josefs vorgeschlagen hatte, tritt nun für Benjamin ein und sagt: »Ich will als Sklave bleiben anstelle des Jungen« (1. Buch Mose 44,33).
In diesem Moment erkennt Josef: Die Brüder haben die Prüfung bestanden. Die Zwietracht, die das Exil ausgelöst hatte, ist überwunden. Er kann sich nicht länger zurückhalten und offenbart sich ihnen: »Ich bin Josef, euer Bruder!« (45,1).
Die Zwietracht, die das Exil ausgelöst hatte, ist überwunden
Einst konnten die Brüder Josef nicht ansehen, ohne Hass zu empfinden. Jetzt stehen sie vor ihm und begreifen, dass er ihre Familien vor dem Hunger gerettet hat. Josef rächt sich nicht. Er sagt: »Nicht ihr habt mich hierher geschickt, sondern G’tt … um das Leben vieler zu erhalten« (45, 7–8).
Josef sieht den g’ttlichen Plan selbst in seinem Schmerz. Er versteht: Spaltung, Neid und Streit sind Prüfungen, durch die G’tt uns lehrt, Einheit zu schaffen.
Josef verriet seinem Vater nie, dass die Brüder ihn verkauft hatten. Er fürchtete, dass die Wahrheit die Familie zerstören könnte. Für ihn war der Frieden zwischen den Brüdern wichtiger als persönlicher Schmerz. Dies zeigt sich in seinen an die Brüder gerichteten Worten nach dem Tod Jakows, die die Essenz jüdischer Einheit widerspiegeln: »Fürchtet euch nicht … Ich werde euch und eure Kinder versorgen« (50,21).
Die Geschichte von Josef und seinen Brüdern wurde zum Vorbild der gesamten jüdischen Geschichte. Das ägyptische Exil begann mit dem Streit der Brüder, und das römische Exil mit Zwietracht unter Volksgenossen.
Die Geschichte von Josef und seinen Brüdern wurde zum Vorbild der gesamten jüdischen Geschichte
Im Talmud (Joma 9b) lehren die Weisen die Ursache der Zerstörung des Zweiten Tempels: »Warum wurde der Zweite Tempel zerstört? Damals beschäftigten sie sich mit Tora, erfüllten die Gebote und vollbrachten gute Taten. Doch er wurde wegen Sinat Chinam – grundloser Feindschaft – zerstört.«
Und umgekehrt: Immer, wenn das Volk vereint war, siegte es. Selbst wenn es wenige waren – mit einem vereinten Herzen war Israel unbesiegbar. Wie es im Jerusalemer Talmud (Pe’a 1,1) heißt: »Die Generation Ahabs, obwohl sie Götzen diente, siegte im Krieg, weil sie kein übles Gerede führte und in Eintracht lebte. Aber die Generation Davids, obwohl sie gerecht war, fiel im Krieg wegen Zwietracht und Denunziation.«
Josef lehrt uns, dass Einheit nicht Gleichförmigkeit bedeutet. Die Brüder sind verschieden – jeder mit seiner eigenen Stärke, seinem eigenen Weg. Doch sie müssen zusammenstehen, wie die Stämme eines Volkes. Einheit bedeutet nicht, Unterschiede zu leugnen, sondern den anderen als Teil des Ganzen zu erkennen.
Die moderne Bedeutung des Abschnitts Mikez besteht darin, dass Rettung nicht durch Macht oder Wunder kommt, sondern durch Überwindung von Feindschaft und Wiederherstellung von Vertrauen. Wenn wir bereit sind, füreinander einzustehen – so wie Jehuda Benjamin verteidigte –, dann offenbart sich die Schechina, die g’ttliche Gegenwart, in der Welt.
So wird die Geschichte der Familie Jakows zu einer ewigen Lehre für alle Generationen: Zwietracht bringt Exil. Einheit bringt Erlösung.
Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.
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Der Wochenabschnitt Mikez erzählt von den Träumen des Pharaos, die niemand an seinem Hof deuten kann außer Josef. Er sagt voraus, dass nach sieben üppigen Jahren sieben Jahre der Dürre kommen werden, und empfiehlt dem Pharao, Vorräte anzulegen. Der Herrscher betraut ihn mit dieser Aufgabe. Dann heiratet Josef: Er nimmt Asnat, die Tochter des ägyptischen Oberpriesters, zur Frau. Sie bringt die gemeinsamen Söhne Efraim und Menasche zur Welt. Dann kommen wegen der Dürre in Kanaan Josefs Brüder nach Ägypten, um dort Getreide zu kaufen.
1. Buch Mose 41,1 – 44,17