Familie

Für immer verbunden

In der frühen Kindheit ist das Verhältnis zwischen Kind und Eltern noch ungetrübt. Später ändert sich das manchmal. Foto: Thinkstock

Das bürgerliche Jahr neigt sich dem Ende zu. Manche von uns bekommen in diesen Tagen Rundbriefe, in denen nichtjüdische Freunde davon erzählen, was in den vergangenen zwölf Monaten in ihrem Leben passiert ist. Als Juden mögen wir solche Briefe belächeln: Unser Neujahr ist doch längst gewesen! Richtig, so ist es. Und – haben wir zu Rosch Haschana auch solche Briefe verschickt? Nein? Nicht einmal eine Karte? Keine Zeit? Keine Lust? Nicht üblich?

Es liegt an uns, wen wir in unser Leben einbeziehen. Wir entscheiden, mit wem wir freundschaftlichen Kontakt halten wollen – und auch, mit wem wir familiären Kontakt halten wollen.

Einer, der sich schwertut mit diesem familiären Kontakt, ist Josef. Wir haben in den vergangenen Wochen gelesen, wie er von seinen Brüdern erst mit dem Tod bedroht und dann als Sklave verkauft wurde; wie der gut aussehende junge Mann in Schwierigkeiten mit der Frau seines Herrn und schließlich ins Gefängnis kam; wie er dort den beiden Hofbeamten des Pharao ihre Träume deutete: Den Oberbäcker hat man aufgehängt, den Obermundschenk wieder in Amt und Würden gesetzt.

Leider hat der Obermundschenk dann sofort sein Versprechen vergessen, sich für Josef einzusetzen, und es dauert weitere zwei Jahre (»Mikez schnatajim jamim«, so beginnt die Parascha), bis auch der Pharao etwas träumt; etwas, das ihn zutiefst beunruhigt, mit dem aber keiner seiner Oberhoftraumdeuter etwas anfangen kann. Da fällt dem Mundschenk plötzlich Josef wieder ein. Er wird eiligst aus dem Gefängnis geholt, gebadet, ordentlich frisiert, angekleidet und dem Pharao präsentiert. Damit beginnt der kometenhafte Aufstieg Josefs vom Sklaven zum Vizekönig von Ägypten.

Name Sieben Jahre vergehen, Josef heiratet ein Mädchen aus bester ägyptischer Familie, wird Vater von zwei Söhnen, ist ein umsichtiger Verwalter im Großen, wie er es als Sklave zuvor im Kleinen gewesen ist. Einen neuen Namen hat er auch: Zafenat-Paneach, und natürlich beherrscht er Ägyptisch in Wort und Schrift. Den Ewigen hat er aber nicht vergessen, wie seine Rede vor dem Pharao beweist. Trotz aller Ägyptisierung bleibt er ein Hebräer.

Etwas hat er, wie es scheint, aber doch vergessen. Seinem ersten Sohn gibt er den Namen Menasche, was so viel heißt wie »der vergessen macht«. Sein Erstgeborener hat ihn also das Haus seines Vaters vergessen lassen. Was meint er damit? Hat er nun etwa, wie Rabbiner Wolf Gunther Plaut (1912–2012) sagt, abgeschlossen mit der Vergangenheit und ist ein »neuer Mensch« geworden, mit einem neuen Leben in Ägypten? Oder hat er, wie Rabbiner Benno Jacob (1862–1945) meint, über seiner eigenen neu gegründeten Familie die wehmütige Erinnerung an sein Elternhaus vergessen können?

Brüder Tatsache ist: Als die Hungerjahre begonnen haben, kommen zehn seiner Brüder nach Ägypten und wollen Getreide kaufen. Und nun fragt Josef das erste Mal – nach all den Jahren! –, ob der Vater dieser zehn Männer, also sein Vater, wohl noch lebe. Er ist gerührt, als er hört, Jakow sei noch am Leben, und der kleine Benjamin dazu. Josef fragt sogar mehrfach. Allerdings tut er das durch einen Dolmetscher, denn er will sich den Brüdern nicht zu erkennen geben. Er bleibt auf Distanz, was nur allzu verständlich ist.

Und doch: Warum erkundigt er sich erst jetzt nach seinem Vater? Gut, als Sklave, zuletzt noch im Gefängnis, da war das weder möglich noch der Sache zuträglich. Aber später, als Zafenat-Paneach? Es wäre ihm doch ein Leichtes gewesen, herauszufinden, wie es dem Vater geht, ihn vielleicht sogar wissen zu lassen, dass sein geliebter Josef noch am Leben ist und noch dazu Karriere gemacht hat. Er hat doch früher auch dem Vater alles zugetragen, was die anderen so hinter dessen Rücken geredet hatten. Warum lässt er den Vater nicht wissen, was seine Brüder Schändliches getan haben? Hat er etwa Angst vor den Brüdern? Oder hat er seinem Vater nicht verziehen, dass dieser ihn damals auf die fatale Reise zu ihnen geschickt hatte?

Rock Beim nochmaligen Lesen des Textes fällt auf, dass mehrfach beschrieben ist, wie sehr Jakow Josef liebt. Er hat ihn lieber als alle seine anderen Söhne, ihn, den Sohn seiner geliebten Rachel, dem er den schönen bunten Rock machen lässt.

Allerdings lesen wir kein einziges Mal davon, dass Josef seinen Vater geliebt habe. Hat ihn Jakow etwa mit seiner Liebe erdrückt? Schließlich hat er ihn bei sich zu Hause behalten, als die anderen die Herden weideten. Er hat in Josef wohl auch eine Art Ersatz für die verstorbene Rachel gesehen. Ein Midrasch berichtet, dass Josef sogar ondulierte Haare gehabt habe und geschminkt gewesen sei im Haus seines Vaters. War Josef im Grunde seines Herzens also vielleicht sogar heilfroh, einer solchen Liebe entronnen zu sein?

Sicher, am Ende wird er sich freuen, seinen Vater wiederzusehen – jetzt aber unter veränderten Vorzeichen. Jetzt ist es Josef, der die Familie ernährt. Jakow ist der Patriarch, aber Josef der Mäzen, der Brotgeber im wahrsten Sinne des Wortes. Josef hat der Autorität des Vaters etwas entgegenzusetzen, seine eigene nämlich. Nicht umsonst heißt es: Ebenso viele Jahre wie Josef im Hause seines Vaters verbrachte, habe hernach der Vater bei seinem Sohn in Ägypten verbracht. Josef hat seinen Vater geehrt, ganz gewiss. Aber – hat er ihn auch geliebt?

Die Zeit heilt viele Wunden, und so gibt es am Ende doch ein Happy End für Jakow und seine zwölf Söhne. Die Familie ist wieder zusammen, wenn auch sicherlich auf andere Weise, als es sich Jakow gedacht hatte.

In den Zehn Geboten heißt es: »Du sollst Vater und Mutter ehren.« Es heißt, wohlgemerkt, ehren – nicht lieben. Dies gilt nicht nur für die Eltern, sondern auch für die Kinder. Ehren wir die Ansichten unserer Eltern, aber ehren wir auch die Eigenständigkeit unserer Kinder, selbst wenn sie andere Wege gehen als die, welche wir für sie vorgesehen hatten – ja, vor allem dann! Und: Halten wir Kontakt miteinander – egal, wie weit wir voneinander entfernt leben, räumlich oder emotional.

Die Autorin ist Rabbinische Leiterin des Egalitären Minjans »Mischkan ha-Tfila« in Bamberg.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Mikez erzählt von den Träumen des Pharaos, die niemand an seinem Hof deuten kann – außer Josef. Er sagt voraus, dass nach sieben üppigen Jahren sieben Jahre der Dürre kommen werden, und empfiehlt Pharao, Vorräte anzulegen. Der Herrscher betraut ihn mit dieser Aufgabe. Dann heiratet Josef: Er nimmt Asnat, die Tochter des ägyptischen Oberpriesters, zur Frau. Sie bringt die gemeinsamen Söhne Efraim und Menasche zur Welt. Dann kommen wegen der Dürre in Kanaan Josefs Brüder nach Ägypten, um dort Getreide zu kaufen. Josef wirft ihnen vor, sie seien Kundschafter, und hält Schimon fest, während sie Benjamin holen sollen. Als die Brüder nach Ägypten zurückkehren, klagt er sie des Diebstahls an und hält Benjamin fest.
1. Buch Mose 41,1 – 44,17

Debatte

Rabbiner für Liberalisierung von Abtreibungsregelungen

Das liberale Judentum blickt anders auf das ungeborene Leben als etwa die katholische Kirche: Im jüdischen Religionsgesetz gelte der Fötus bis zur Geburt nicht als eigenständige Person, erklären liberale Rabbiner

von Leticia Witte  11.12.2024

Vatikan

Papst Franziskus betet an Krippe mit Palästinensertuch

Die Krippe wurde von der PLO organisiert

 09.12.2024

Frankfurt

30 Jahre Egalitärer Minjan: Das Modell hat sich bewährt

Die liberale Synagogengemeinschaft lud zu einem Festakt ins Gemeindezentrum

von Eugen El  09.12.2024

Wajeze

»Hüte dich, darüber zu sprechen«

Die Tora lehrt, dass man ein Gericht anerkennen muss und nach dem Urteil nicht diskutieren sollte

von Chajm Guski  06.12.2024

Talmudisches

Die Tora als Elixier

Birgt die Tora Fallen, damit sich erweisen kann, wer zur wahren Interpretation würdig ist?

von Vyacheslav Dobrovych  06.12.2024

Hildesheimer Vortrag 2024

Für gemeinsame Werte einstehen

Der Präsident der Yeshiva University, Ari Berman, betonte die gemeinsamen Werte der jüdischen und nichtjüdischen Gemeinschaft

von Detlef David Kauschke  05.12.2024

Naturgewalt

Aus heiterem Himmel

Schon in der biblischen Tradition ist Regen Segen und Zerstörung zugleich – das wirkt angesichts der Bilder aus Spanien dramatisch aktuell

von Sophie Bigot Goldblum  05.12.2024

Deutschland

Die Kluft überbrücken

Der 7. Oktober hat den jüdisch-muslimischen Dialog deutlich zurückgeworfen. Wie kann eine Wiederannäherung gelingen? Vorschläge von Rabbiner Jehoschua Ahrens

von Rabbiner Jehoschua Ahrens  05.12.2024

Chabad

Gruppenfoto mit 6500 Rabbinern

Tausende Rabbiner haben sich in New York zu ihrer alljährlichen Konferenz getroffen. Einer von ihnen aber fehlte

 02.12.2024