Unterschied

Frommer Zorn

Steine gegen Andersdenkende: Ultraorthodoxe protestieren in Jerusalem. Foto: Flash 90

»Mann und Frau im religiösen Eifer unter Selbstjustiz erstochen« – so könnte die Zeitung am folgenden Tag getitelt haben und hätte sich wohl auch nicht schlecht verkauft. Zweifelsohne schlägt ein derartiger Skandal jedem modernen und aufgeklärten Menschen aufs Gemüt oder erweckt zumindest seine Neugier, wie so etwas in einem Rechtsstaat möglich sein kann.

Ebendiese skandalöse Situation treffen wir in unserem Wochenabschnitt an: »Da kam ein Mann von den Kindern Jisraels und führte die Midjaniterin zu seinen Brüdern hin, vor den Augen Mosches und vor den Augen der ganzen Gemeinde der Kinder Jisraels, die am Eingang des Stiftszeltes weinten. Als aber Pinchas, der Sohn El’asars, des Sohnes Aharons, das sah, stand er aus der Mitte der Gemeinde auf und nahm einen Speer in seine Hand. Und er ging dem Israeliten ins Zelt nach und durchbohrte die beiden, den Israeliten und die Frau, durch ihren Leib« (4. Buch Moses 25, 6-8).

vernichtung Noch skandalöser als die Tat muss uns jedoch erscheinen, dass G’tt persönlich diese nicht nur gutheißt, sondern gar lobpreist: »Und G’tt sprach zu Mosche wie folgt: Pinchas, Sohn El’asars, Sohn des Priesters Aharon, hat meinen Zorn von den Kindern Jisraels abgewendet, indem er an Meiner statt seinen Eifer in ihrer Mitte betätigte, sodass Ich die Kinder Jisraels nicht in meinem Eifer vernichtet habe. Darum sprich: Siehe, Ich gebe ihm meinen Bund des Friedens« (4. Buch Moses 10-12).

Sollte das Judentum solchen Eifer etwa wirklich gutheißen? Aus der talmudischen Schilderung der Vorgänge erhalten wir ein völlig anderes Bild. Im Jeruschalmi, dem Jerusalemer Talmud (Sanhedrin 9,7), heißt es beispielsweise: »und auch Pinchas agierte gegen den Willen der Gelehrten. Rabbi Jehuda, Sohn des Pasi, sagte: ›Sie wollten ihn verstoßen, wenn nicht die g’ttliche Verkündung gekommen wäre und gesagt hätte: Und es sei ihm (Pinchas) und seinen Nachkommen nach ihm ein Bund des ewigen Priestertumes (4. Buch Moses 25,13)‹«.

Auch der Babylonische Talmud bringt eine ähnliche Aussage: »Die Engel wollten ihn (Pinchas) wegstoßen. Da sagte Er (G’tt) ihnen: ›Lasst ab von ihm! Er ist ein Eiferer, Sohn eines Eiferers; ein Abwender meines Zornes, Sohn eines Abwenders meines Zornes‹« (Sanhedrin 82b). Die Essenz dieser beiden Talmudstellen ist dieselbe: Pinchas’ Tat wäre eigentlich verachtenswert und ein Anlass gewesen, ihn zu verstoßen, hätte er nicht die ausdrückliche Unterstützung G’ttes gehabt. Stellen sich die Weisen im Talmud damit gegen die Aussage der Tora, ja gegen die Aussage G’ttes? Wollen sie etwa das korrigieren, was uns menschlich gesehen unbegreiflich erscheint?

Ganz im Gegenteil! Die talmudische Schilderung steht nicht nur nicht im Widerspruch zur Schilderung der Tora, sondern öffnet uns die Augen für das richtige Verständnis in ihr. Unsere Weisen verstehen es, mit Exzellenz und Scharfsinn zwischen den Zeilen zu lesen und das darin Enthaltene herauszuarbeiten und in klare Worte zu fassen. Der Umstand, dass G’tt Pinchas Seinen besonderen Bund und Schutz anbietet, spricht ausdrücklich dafür, dass Pinchas darauf angewiesen war und anderenfalls verstoßen worden wäre.

wunder Diese Lesart wird bestärkt durch die weitere Ausführung des Talmuds, der sechs Wunder aufzählt, die Pinchas zu jenem Zeitpunkt erlebte. Erst sie führten zu dem gerechtfertigten und erfolgreichen Ausgang seiner Tat, die ansonsten, im Regelfall, nicht akzeptabel gewesen wäre. Schon bei der Ausführung war Pinchas auf die g’ttliche Unterstützung angewiesen. Nicht nur unsere Weisen, sondern auch die Tora stellt sich grundsätzlich gegen diese Art von Eifer. So weist Mosche seinen Schüler Jehoschua in die Schranken, als dieser für die Ehre seines Lehrers und Meisters eifern wollte: »Eiferst du etwa an Meiner statt? Wer gäbe, dass das ganze Volk G’ttes Propheten wären« (4. Buch Moses 11,29).

Auch für den Fall, dass ein Mann zu Recht von Eifersucht gegenüber seiner Ehefrau erfasst wird, schreibt die Tora vor, sich nicht zu emotional und unkontrolliert zu verhalten, sondern einem klaren und gesetzlichen Regelwerk zu folgen (4. Buch Moses 5,30). Eine sinnvolle und gute Reaktion ist überlegt und durchdacht. Pinchas’ Tat hingegen ist nicht einfach so zu akzeptieren, denn das Judentum baut auf Vernunft auf. Die Klarheit und Geradlinigkeit des Verstandes durchdringen alle Lebensfragen und setzen die Gesetze und die Halachot bis in kleinste Einzelheiten fest.

Was aber rechtfertigte Pinchas’ Eifer? Weshalb wurde er von G’tt persönlich so sehr in Schutz genommen und gelobt? Und worin zeichnete sich sein Eifer vor allem aus? Sein Eifer war nicht auf einseitige Interessen bedacht. Pinchas eiferte auch für den Frieden zwischen G’tt und dem jüdischen Volk. So sprach G’tt zu Mosche, unmittelbar nach der Begebenheit: »Pinchas ... hat meinen Zorn von den Kindern Jisraels abgewendet ..., dass Ich die Kinder Jisrael in meinem Eifer nicht vernichtete« (4. Buch Moses 25,11).

Es handelte sich um eine außergewöhnliche Situation, in der Pinchas’ Eifer die schon stattfindende g’ttliche Strafe, die im jüdischen Volk wütete, aufhielt, Frieden anstrebte und schließlich auch Frieden stiftete: »Siehe, Ich gebe ihm meinen Bund des Friedens« (25,12).

Elijahu In der Haftara zum Wochenabschnitt begegnet uns ein anderer Eiferer: der Prophet Elijahu. Dieser musste sich zur Zeit der Könige – das war vor etwa 2.800 Jahren – gegen die Götzendiener des Baalskultes und dessen jüdische Anhänger durchsetzen. Zu den Anhängern gehörte auch der damalige König Ach’aw (Ahab) und seine Frau Isewel (Isebel), die Elijahu deswegen nach dem Leben trachteten. Also floh er in die Wüste und sprach zu G’tt, der ihm dort erschien: »Geeifert habe ich für G’tt« (Melachim I 19,14). Der Ewige jedoch wollte Elijahus Eifer nicht akzeptieren und befahl ihm, von seiner Aufgabe zurückzutreten: »und den Elischa ben Schafat aus Awel Mechola salbe statt deiner zum Propheten« (19,16).

Weshalb wurde Elijahus Eifer im Gegensatz zu dem von Pinchas von G’tt zurückgewiesen? Weil es sich um einen einseitigen Eifer für G’tt handelte, der sich gleichzeitig gegen die Menschen, gegen das jüdische Volk, wandte, wie Elijahu selbst betont: »denn die Kinder Jisrael haben deinen Bund verlassen« (19,10), und was in seinen weiteren Worten noch stärker hervortritt: »Und ich allein bin übrig geblieben, und sie trachten nach meinem Leben, es zu nehmen«. Ein Eifer für G’tt und für sich selbst ist keineswegs akzeptabel und wird von G’tt zurückgewiesen, selbst wenn es sich um einen großen Mann wie den Propheten Elijahu handelt.

Der Autor ist Rabbiner der Synagogen-Gemeinde Köln.

Inhalt
Der Wochenabschnitt Pinchas berichtet vom gleichnamigen Priester, der durch seinen Einsatz den Zorn G’ttes abwenden konnte. Dafür wird er mit dem »Bund des ewigen Priestertums« belohnt. Die kriegsfähigen Männer werden gezählt, und das Land Israel wird unter den Stämmen aufgeteilt. Mosches Leben nähert sich dem Ende. Deshalb wird Jehoschua zu seinem Nachfolger bestimmt. Zum Schluss der Parascha stehen Opfervorschriften.
4. Buch Moses 25,10 – 30,1

Mezora

Die Reinheit zurückerlangen

Die Tora beschreibt, was zu tun ist, wenn Menschen oder Häuser von Aussatz befallen sind

von Rabbinerin Yael Deusel  18.04.2024

Tasria

Ein neuer Mensch

Die Tora lehrt, dass sich Krankheiten heilsam auf den Charakter auswirken können

von Yonatan Amrani  12.04.2024

Talmudisches

Der Gecko

Was die Weisen der Antike über das schuppige Kriechtier lehrten

von Chajm Guski  12.04.2024

Meinung

Pessach im Schatten des Krieges

Gedanken zum Fest der Freiheit von Rabbiner Noam Hertig

von Rabbiner Noam Hertig  11.04.2024

Pessach-Putz

Bis auf den letzten Krümel

Das Entfernen von Chametz wird für viele Familien zur Belastungsprobe. Dabei sollte man es sich nicht zu schwer machen

von Rabbiner Avraham Radbil  11.04.2024

Halacha

Die Aguna der Titanic

Am 14. April 1912 versanken mit dem berühmten Schiff auch jüdische Passagiere im eisigen Meer. Das Schicksal einer hinterbliebenen Frau bewegte einen Rabbiner zu einem außergewöhnlichen Psak

von Rabbiner Dovid Gernetz  11.04.2024

Berlin

Koscher Foodfestival bei Chabad

»Gerade jetzt ist es wichtig, das kulturelle Miteinander zu stärken«, betont Rabbiner Yehuda Teichtal

 07.04.2024

Schemini

Äußerst gespalten

Was die vier unkoscheren Tiere Kamel, Kaninchen, Hase und Schwein mit dem Exil des jüdischen Volkes zu tun haben

von Gabriel Rubinshteyn  05.04.2024

Talmudisches

Die Kraft der Natur

Was unsere Weisen über Heilkräuter lehren

von Rabbinerin Yael Deusel  05.04.2024