Neulich beim Kiddusch

Fromm auf Zeit

Daniel hat mich eigentlich immer nur ausgelacht. Er ist ein wenig älter als ich, hat früher ab und zu seinen Onkel zu jüdischen Veranstaltungen gefahren, aber sonst hatte er mit »dieser ganzen religiösen Sache«, wie er es nannte, nicht viel am Hut. Im Theater konnte man ihn treffen, oder im Kino, oder im Café. Dort mit stetig wechselnder Damenbegleitung.

Seine Frau hatte ihn vor Jahren mit seinem Sohn sitzen lassen. Wenn ich es richtig verstanden habe, besteht ihr Lebensinhalt heute darin, in der Toskana mit irgendeinem Lifestyleguru töpfernd neue Sphären des Daseins zu erkunden. Daniel schien das nicht sonderlich zu bedauern. Als sein Sohn noch etwas jünger war, machte er sich prima als Werkzeug, um mit Frauen ins Gespräch zu kommen. Mit dem Kleinen kam er nur äußerst selten in die Synagoge. Aber er wollte ihm diese Option offenhalten.

Projekt Vor einigen Wochen war Daniel plötzlich wieder in der Synagoge. Er setzte sich neben mich und löcherte mich mit Fragen zu allen möglichen Themen und wollte wissen, wo man richtig tolle Einführungsliteratur bekommt. Ich war sehr froh und irgendwie stolz, dass ich jetzt offenbar ein Projekt hatte. Daniel schien sich für das Judentum zu interessieren, und ich war sein Tor in die jüdische Welt!

Am Anfang habe ich vielleicht ein wenig überreagiert und ihm zehn bis zwölf Bücher vor die Tür gelegt, ein paar Schabbatkerzen, ein Buch über Kaschrut und eine Flasche Kidduschwein. Aber er hat sich fröhlich bedankt und mich zum Kiddusch eingeladen.

Hasch-Challe Da wurde mir klar, wie der Hase läuft. Ich traf dort nämlich die Freundin seines Sohnes. Sehr hübsches Mädchen und zufälligerweise Jüdin. Sohn und Vater wirkten, als hätte jemand eine Hasch-Challe gebacken. Beide starrten die junge Frau mit großen Augen an. Alles andere spielte überhaupt keine Rolle mehr und wurde komplett ausgeblendet.

Plötzlich hörte ich Daniel auch die Segenssprüche über den Wein sprechen. Noch drei Wochen zuvor hätte er das Glas erhoben und so etwas gesagt wie »Kipp runter«. Aber jetzt stand er selig lächelnd am Tisch und blickte voller Ehrfurcht auf den Wein. Dann setzte er sich hin und quittierte jeden Schluck, den ich nahm, mit einem »LeChajim – LeChajim«. Und wann immer ich ihm etwas Positives erzählte, sagte er: »Baruch haSchem«.

Musterjude Beim nächsten Synagogenbesuch tippte er plötzlich immer auf die Stelle in meinem Siddur, bei der der Vorbeter gerade war. Nicht nur einmal, sondern ständig. Zudem hatte ich das Gefühl, dass er mich aus dem Augenwinkel genau beobachtete und schaute, ob ich auch alles richtig mache.

Die junge Dame saß in der Frauenabteilung. Daniels Sohn schockelte sich derweil schwindelig. Beim Kiddusch in der Synagoge ging das weiter. Sobald das Mädchen den Raum betrat, waren die beiden nicht mehr ansprechbar. Und sobald sie sich anders beschäftigte, überprüften sie alles auf seine Richtigkeit. Psst! Nicht sprechen nach dem Segen über den Wein! Mit einem Knuff in die Seite gab mir Daniel zu verstehen, dass man sich die Hände dreimal mit Wasser übergießen soll. Mein Projekt »Tor zum Judentum« verlief also recht nachteilig für mich.

Sechs Wochen später aber war da plötzlich niemand mehr, der mir die Seiten umblätterte. Daniel blieb weg. Auch an den folgenden Schabbatot. Eines Abends rief ich ihn an. »Ach ja, die Freundin meines Sohnes meinte, wir seien ein wenig zu extrem. Freaks. Und dann hat sie mit uns Schluss gemacht.« Baruch haSchem, dachte ich.

Wajera

Awrahams Vermächtnis

Was wir vom biblischen Patriarchen über die Heiligkeit des Lebens lernen können

von Rabbiner Avraham Radbil  07.11.2025

Talmudisches

Rabbi Meirs Befürchtung

Über die falsche Annahme, die Brachot, die vor und nach der Lesung gesprochen werden, stünden im Text der Tora

von Yizhak Ahren  07.11.2025

Festakt

Ministerin Prien: Frauen in religiösen Ämtern sind wichtiges Vorbild

In Berlin sind zwei neue Rabbinerinnen ordiniert worden

 06.11.2025

Chassidismus

Im Sturm der Datenflut

Was schon Rabbi Nachman über Künstliche Intelligenz wusste

von Rabbiner David Kraus  06.11.2025

Rezension

Orthodoxer Rebell

Sein Denken war so radikal, dass seine Werke nur zensiert erschienen: Ein neues Buch widmet sich den Thesen von Rabbiner Kook

von Rabbiner Igor Mendel  06.11.2025

Potsdam

Abraham-Geiger-Kolleg ordiniert zwei Rabbinerinnen

In Deutschlands größter Synagoge Rykestraße in Berlin-Prenzlauer Berg werden an diesem Donnerstag zwei Rabbinerinnen ordiniert. Zu der Feier wird auch Polit-Prominenz erwartet

 05.11.2025

Vatikan

Theologe: Antisemitismus bei Vatikan-Konferenz kein Einzelfall

Der Salzburger Theologe Hoff berichtet über Eklats bei einer jüngsten Vatikan-Konferenz. Ein Schweizergardist soll sich verächtlich über Mitglieder einer jüdischen Delegation geäußert und in ihre Richtung gespuckt haben

 04.11.2025

Wittenberg

Judaistin kuratiert Bildungsort zur Schmähplastik

Die Darstellung der sogenannten »Judensau« an der Wittenberger Stadtkirche, der früheren Predigtkirche des Reformators Martin Luther (1483-1546), gehört in Deutschland zu den bekanntesten antisemitischen Darstellungen des Mittelalters

 02.11.2025

Lech Lecha

Im Sinne der Gerechtigkeit

Awraham war der Erste in der Menschheitsgeschichte, der gegen das Böse aufstand

von Rabbiner Salomon Almekias-Siegl  31.10.2025