Ethik

»Freue dich nicht, wenn dein Feind fällt«

Nach der Nachricht vom Tod des Hamas-Führers Yahya Sinwar verteilt ein Mann Süßigkeiten auf dem Mahane-Yehuda-Markt in Jerusalem. Foto: Flash 90

In den vergangenen Monaten konnte man in Israel ein Phänomen beobachten: Nachdem die Armee die Eliminierung von Terroristenführern wie Ismail Haniyeh, Hassan Nasrallah oder Yahya Sinwar bekannt gegeben hatte, wurde ausgelassen gefeiert. Nach der Tötung von Sinwar, der als Planer des Terrorangriffs der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 gilt, kursierten auf Social Media zahlreiche Videos, die zeigen, wie Nachbarn Champagner und Süßigkeiten verteilen. Spontane Partys entstehen auf den Straßen, Autofahrer hupen beim Vorbeifahren.

Nach der Eliminierung des Hisbollah-Führers Hassan Nasrallah äußerte Douglas Murray, ein britischer, pro-israelischer Journalist, in einem Interview einen interessanten Kommentar: Ein jüdischer Freund habe ihm gesagt, dass man sich laut dem Judentum nicht über den Tod eines Feindes freuen solle. Da er, Douglas Murray, jedoch nicht jüdisch sei, könne er sich ungehindert über die Tötung des Terroristen freuen. Doch stimmt die Behauptung von Murrays Freund, und wenn ja, warum wird die Eliminierung von Terroristen dennoch auch von religiösen Israelis gefeiert?

An Pessach sollen Juden sich nicht über den Fall der Ägypter freuen.

Tatsächlich finden wir im Buch Mischlei, den Sprüchen von König Schlomo, den Vers: »Freue dich nicht, wenn dein Feind fällt, und lass dein Herz nicht frohlocken, wenn er strauchelt« (24,17).

Rabbi Menachem Ben Schlomo (1249–1315), bekannt als Meiri, erklärt in seinem Kommentar zu Mischlei, dass Schadenfreude eine schlechte Charaktereigenschaft ist und dass das Judentum erwartet, dass man sogar bei einem Feind keine Schadenfreude empfindet, geschweige denn zeigt. Auf den ersten Blick scheint also klar, dass Schadenfreude im Judentum vollständig untersagt ist.

Auf den ersten Blick scheint klar: Schadenfreude ist im Judentum untersagt

Der Talmud (Megilla 16a) schränkt dieses Verbot jedoch ein. Dort wird berichtet, dass, nachdem der persische König Achaschwerosch Haman, den Erzfeind des jüdischen Volkes, angewiesen hatte, Mordechai für seine Rettung zu belohnen, Mordechai jede Gelegenheit nutzte, um Haman zu demütigen. Er zwang Haman, ihn zu baden, ihm die Haare zu schneiden, und benutzte dessen Rücken, um auf das königliche Pferd zu steigen. Als Mordechai sich auf den Rücken des Gauls schwang, gab er Haman sogar noch einen Tritt mit.

Der Talmud erzählt, dass Haman Mordechai fragte, wie es ihm erlaubt sei, sich über seine Erniedrigung zu freuen, wenn doch ausdrücklich in Mischlei steht, dass man sich nicht über den Fall seines Feindes freuen soll. Darauf antwortete Mordechai, dass dieses Verbot nur für Feinde aus dem jüdischen Volk gelte, während es bei anderen Völkern erlaubt sei. Und im Gegenteil sei darüber geschrieben: »… es verleugnen deine Feinde sich dir, und auf ihre Höhen trittst du!« (5. Buch Mose 33,29). Somit sei es gestattet, sich über den Fall von Feinden des jüdischen Volkes zu freuen.

Der Midrasch (Jalkut Schimoni Mischlei 862) scheint dieser Unterscheidung jedoch zu widersprechen. Dort wird gefragt, warum man an Pessach, im Gegensatz zu Sukkot, nur am ersten Tag (beziehungsweise am ersten und zweiten Tag in der Diaspora) das volle Hallel im Morgengebet spricht. Der Midrasch erklärt, dass es nicht angemessen sei, sich an allen Pessachtagen zu freuen, da man sich nicht über den Fall (beziehungsweise den Tod) der Ägypter freuen soll.

Doch ist dieser Vers auch auf Feinde anderer Nationen anzuwenden?

Rabbi Ovadia Yosef (Maor Jisrael Brachot 9b) ist der Ansicht, dass es tatsächlich zwei unterschiedliche Meinungen unter den jüdischen Gelehrten gibt, ob dieser Vers auch auf Feinde anderer Nationen anzuwenden ist.

Andere Gelehrte schlagen Erklärungen vor, die den vermeintlichen Widerspruch zwischen Talmud und Midrasch auflösen:
Eine mögliche Erklärung besagt, dass es einen Unterschied zwischen einem individuellen Feind und einem ganzen Volk gibt. Während es erlaubt ist, sich über den Fall eines nichtjüdischen Feindes zu freuen, sollte man sich nicht über die Vernichtung eines gesamten Volkes freuen, selbst wenn es sich um Feinde handelt.

Eine weitere Erklärung lautet, dass man zwischen Tod und Erniedrigung unterscheidet. Während es Mordechai gestattet war, sich über die Erniedrigung Hamans zu amüsieren, sei es nicht angemessen, sich über den Tod von Feinden zu freuen. (Zwar heißt es in der Megillat Ester, dass sich das jüdische Volk nach dem Tod Hamans freute, diese Freude könne jedoch als Erleichterung über die Rettung des jüdischen Volkes interpretiert werden und nicht unbedingt als Freude über den Tod Hamans.)

Ben Isch Chai kommentiert, dass der Talmud nur die Freude über den Fall und Tod von Amalek erlaubt

Rabbi Yosef Chaim aus Bagdad (1835–1909), bekannt als Ben Isch Chai, kommentiert, dass sogar der Talmud (beziehungsweise Mordechai) nur die Freude über den Fall und Tod von Amalek erlaubt, den Erzfeind der Israeliten. Für Amalek gelten besondere Regeln, da diese Nation es sich zur Aufgabe gemacht hatte, das jüdische Volk zu vernichten. Und da Haman bekanntermaßen von Amalek abstammte, sei es hier gestattet. Dies gilt jedoch nicht für andere Nationen, sodass kein Widerspruch zwischen Talmud und Midrasch besteht.

Was sagen wir nun zu Douglas Murrays Aussage im Namen seines Freundes? Dürfen Juden keine Freude über die Tötung eines Terroristenführers zeigen?

Mordechai amüsierte sich über die Erniedrigung seines Erzfeindes Haman.

Laut Rabbi Ovadia Yosef handelt es sich letztlich um eine Meinungsverschiedenheit zwischen Talmud und Midrasch. Nach den anderen Erklärungen, die keinen solchen Widerspruch sehen, hängt es von der jeweiligen Auslegung ab. Während man sich laut der einen Ansicht nur über den Tod einzelner Personen freuen kann, sollte man sich laut der anderen generell nicht über den Tod von Feinden freuen.

Besonders interessant ist die Meinung des Ben Isch Chai. Auf den ersten Blick sollte es verboten sein, sich über die Eliminierung von Erzterroristen wie Ismail Haniyeh, Hassan Nasrallah und Yahya Sinwar zu freuen, da diese offensichtlich keine Nachkommen von Amalek sind. Jedoch zitiert Rabbi Joseph B. Soloveitchik (1903–1993), bekannt als »der Rav«, im Namen seines Vaters, dass eine Nation oder Bewegung, die es sich zum Ziel gemacht hat, das jüdische Volk zu vernichten, den Status von Amalek erhält.

Demnach wäre es laut Ben Isch Chai sogar erlaubt, sich über deren Tod zu freuen, da diese Terroristen zweifellos diese Bedingung erfüllen.
Douglas Murrays Freund scheint der Meinung zu folgen, die zwischen Erniedrigung und Tod unterscheidet, während viele Israelis den anderen Interpretationen folgen und gemeinsam mit Douglas Murray auf jede weitere Eliminierung eines Terroristenführers anstoßen.

Der Autor ist Assistenz-Rabbiner der Gemeinde Kahal Adass Jisroel, Dozent am Rabbinerseminar zu Berlin und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz Deutschland (ORD).

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