Der Wochenabschnitt Reʼeh endet damit, dass Mosche den Israeliten die Gebote bezüglich der Freude an den Festtagen mitteilt. Dabei klingen die Beschreibungen des Gebotes der Freude am Wochenfest (Schawuot) und am Laubhüttenfest (Sukkot) fast gleich, haben aber einen signifikanten Unterschied. Um diesen soll es im Folgenden gehen.
Zunächst zur Wortwahl. In Bezug auf Sukkot heißt es in der Tora: »Und du sollst dich an deinem Fest freuen – du und dein Sohn und deine Tochter und dein Knecht und deine Magd und der Levit und der Fremde und die Waise und die Witwe, die in deinen Städten sind« (5. Buch Mose 16,14).
Nur drei Verse zuvor ist in der Tora bezüglich Schawuot zu lesen: »Und du sollst dich freuen vor dem Ewigen, deinem Gʼtt – du und dein Sohn und deine Tochter und dein Knecht und deine Magd und der Levit, der in deinen Städten ist, und der Fremde und die Waise und die Witwe in deiner Mitte« (16,11).
Es werden eins zu eins dieselben Personen aufgezählt, mit dem einzigen Unterschied, dass der Fremde, der Waise und die Witwe nicht mehr »in deinen Städten« (hebräisch: beschaʼarecha), sondern »in deiner Mitte« (hebräisch: bekirbecha) sind.
Das ist eine Besonderheit beim Schawuotfest. Die unterschiedliche Wortwahl ist kein Zufall. »Bekirbecha« (in deiner Mitte) hat eine intimere, inklusivere Konnotation – dies suggeriert, dass die genannten Menschen wirklich Teil deiner Gemeinschaft, des Lebens und des Umfelds sind. Sie sind nicht nur geografisch da, sondern auch sozial eingebunden.
»Beshaʼarecha« (in deinen Toren/Städten) ist formaler und äußerlicher – es kann einfach bedeuten, dass sie sich räumlich im eigenen Bereich befinden, ohne notwendigerweise eine soziale Integration anzudeuten.
Spannenderweise benutzt die Tora im Kontext der Freude an Schawuot also die Wortwahl, welche die intimere Verbindung meint, gerade im Zusammenhang mit den Personen, die meist weiter entfernt sind. Der Waise, die Witwe und der Fremde leben anders als die eigenen Kinder oder die Magd nicht im eigenen Haus und haben auch nicht den gehobenen sozialen Status eines Leviten. Gerade diese Menschen sollen sich an Schawuot in »deiner Mitte« freuen und nicht bloß »in deiner Stadt«.
Die Eltern zu ehren, heißt, Dinge zu tun, um Vater oder Mutter glücklich zu machen
Ich denke, dass diese besondere Wortwahl Aufschluss über die Essenz der Tora geben kann. In den Zehn Geboten heißt es: »Ehre deinen Vater und deine Mutter« (2. Buch Mose 20,12), und an einer anderen Stelle in der Tora lesen wir: »Ein jeder soll seine Mutter und seinen Vater fürchten« (3. Buch Mose 19,3). Die Eltern zu ehren, heißt, aktiv Dinge zu tun, um Vater oder Mutter glücklich zu machen. Die Eltern zu fürchten, bedeutet, das, was die Eltern verletzen könnte, aus Ehrfurcht zu unterlassen (Kidduschin 31b).
Raschi (1040–1105) bezieht sich in seinem Kommentar auf die talmudischen Weisen und erklärt, dass man normalerweise den Vater fürchtet und die Mutter verehrt, daher nennt die Tora den Vater zuerst beim Gebot der Ehre und die Mutter zuerst beim Gebot der Furcht. Die Tora will die soziale Norm brechen und durch die genaue Wortwahl lehren, dass auch die Mutter gefürchtet und auch der Vater geehrt werden soll. Das, was den meisten schwerer fällt, wird zuerst genannt.
Eine ähnliche »Umkehrung« sehen wir auch in unserem aktuellen Wochenabschnitt Reʼeh: Natürlicherweise empfinden Menschen andere, die mit ihnen unter einem Dach wohnen oder einen hohen sozialen Status haben, als »in ihrer Mitte«. Und sie empfinden Menschen, die von ihnen abgesondert leben, als fremd. Sie nehmen sie als »in ihren Städten« lebend wahr, als geografisch nah, aber emotional fern.
Die Tora will genau diesen Zustand verändern. Die Kinder werden als »in deiner Stadt« beschrieben, während die Fremden als »in deiner Mitte« beschrieben werden. Dies soll zeigen, dass man die Freude auch mit denen teilen soll, die sich emotional am weitesten entfernt von einem befinden. Wieder gilt: Das, was den meisten schwerer fällt, wird zuerst genannt.
Wieso aber diese Besonderheit gerade in Bezug auf Schawuot? Schawuot ist das Fest des Empfangs der Tora. Die Essenz dieser Offenbarung ist die Nächstenliebe, die Einheit, der Mut, der aus dem Glauben resultiert und uns erlaubt, auch diejenigen, die uns fremd sind, als nahe zu empfinden. Gerade hier passt diese besondere Lehre bezüglich der besonderen Inklusion von Witwen, Waisen und Fremden.
Im Hebräischen existieren zwei Hauptformen, um ein Verbot auszudrücken
Die Offenbarung am Berg Sinai ist in erster Linie die Offenbarung der Zehn Gebote. Wenn wir uns deren Text jedoch anschauen, dann sehen wir etwas Bemerkenswertes: Im Hebräischen existieren zwei Hauptformen, um ein Verbot auszudrücken. Die eine Form beginnt mit »al« (du sollst nicht) und wird meist verwendet, um eindringliche Warnungen auszudrücken. Die zweite Form beginnt mit »lo« (nicht) und wird in der Tora oft verwendet, um absolute, gesetzliche Verbote auszudrücken.
In den Zehn Geboten wird konsequent die letztere Form benutzt, wie zum Beispiel im sechsten Gebot: »Lo tirzach« – Du sollst nicht morden! Wörtlich aus dem Hebräischen übersetzt, ist dieses Gebot, wie auch andere der Zehn Gebote, nicht nur ein Befehl, sondern auch eine Aussage bezüglich der Zukunft: »Du wirst nicht morden.« Vielleicht liegt der Grund für diese Formulierung darin, dass die gʼttliche Offenbarung am Berg Sinai eine Kettenreaktion an Ereignissen auslöste, die dazu führen wird, dass die endgültige Erlösung kommt und das Morden auf der Welt für immer aufhört.
Die Aussage »Du wirst nicht morden« ist dann keine bloße ethische Grenze, sondern eine Vision. Die Vision einer Welt, in der das Töten überwunden ist. Das Gebot wird zur Verheißung, zur endzeitlichen Wirklichkeit.
Nicht umsonst verbindet der Prophet Jeschajahu (2, 3–4) die Prophezeiung bezüglich des endzeitlichen Friedens mit der Tora: »Denn von Zion wird Tora ausgehen und das Wort des Ewigen von Jerusalem. Und Er wird richten zwischen den Nationen und viele Völker zurechtweisen. Dann werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden und ihre Speere zu Winzermessern. Kein Volk wird mehr das Schwert gegen ein anderes erheben, und sie werden nicht mehr lernen, Krieg zu führen.«
Der Autor ist Religionslehrer und Sozialarbeiter der Jüdischen Gemeinde Osnabrück.
inhalt
Der Wochenabschnitt Re’eh beginnt mit den Worten, die Mosche an das Volk richtet: »Siehe, Ich lege heute vor euch Segen und Fluch!« Den Segen erhalten die Bnei Israel, wenn sie auf die Gebote G’ttes hören. Der Fluch wird über sie kommen, wenn sie sich nicht entsprechend verhalten und sich fremden Götzen zuwenden. Bei den nachfolgenden Ritualgesetzen geht es um die Errichtung eines zentralen Heiligtums, um Schlachtopfer, die Entrichtung des Zehnten (Ma’aser) und um die Erfüllung von Gelübden (Neder). Dann folgen die Speisegesetze, und zum Schluss werden die Regeln für das Schabbatjahr beschrieben und die Feiertage Pessach, Schawuot und Sukkot sowie die damit verbundenen Vorschriften erwähnt.
5. Buch Mose 11,26 – 16,17