Interview

»Frauen sind Teil des Wunders«

Hadassah Wendl (25) arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der FU Berlin und übersetzt in ihrer Freizeit religiöse Texte für Frauen.

Frau Wendl, Sie haben viel Zeit damit verbracht, Texte über die religiösen Pflichten von Frauen auf Deutsch zu übersetzen. Warum ist diese Perspektive wichtig?
Nehmen wir ein ganz aktuelles Beispiel, Chanukka. Man könnte leicht denken, dass das Zünden von Chanukkakerzen für Frauen keine Pflicht ist, weil es eine der zeitgebundenen, positiven Mizwot ist, von denen Frauen prinzipiell ausgenommen sind. Aber auch Frauen sollen die Kerzen zünden, zumindest, wenn niemand anderes im Haushalt es für sie tut. Spannend ist, woher diese Regel kommt: Es gibt das Konzept von »af hen haju beʼoto Hanes« – übersetzt: Auch sie, also die Frauen, waren Teil des Wunders. Dieses Konzept begegnet uns auch in anderen Kontexten, zum Beispiel an Purim. Frauen sind dazu verpflichtet, die Megillalesung zu hören. Warum? Weil sie Teil des Wunders waren: Ohne Esthers Mut wären die Juden von Haman ermordet worden! Auch an Pessach sollen Frauen vier Becher Wein trinken, weil sie Teil des Wunders der Befreiung aus Ägypten waren. Die Debatte in der rabbinischen Literatur dreht sich dabei immer um die Frage, ob Frauen einfach nur mitgelaufen sind, ob sie miterlebt und mitgelitten haben – oder ob sie sogar eine besondere, herausragende Rolle bei diesen Wundern gespielt haben.

Und wie ist das bei Chanukka?
Auch da haben wir diese zwei Ebenen. Es gibt die generelle Bedrohung des jüdischen Volkes, der natürlich alle, auch die Frauen, ausgesetzt waren. Und dann gibt es individuelle Charaktere, zum Beispiel Judith, die herausragende Rollen gespielt haben. Wenn man diese Quellen kennt, ist es natürlich etwas ganz anderes, Chanukkakerzen zu zünden. Aus einer reinen Verpflichtung wird ein bedeutungsschweres Zeichen: Wir Frauen sind Teil der jüdischen Geschichte. Wir haben sie mitgeprägt. Und deshalb sind wir auch verpflichtet, daran zu erinnern.

Was hat Sie dazu bewogen, diese Texte zu übersetzen?
Ich bin erst während meines Studiums religiös geworden und hatte natürlich viele Fragen. Beim Googeln bin ich auf eine Seite namens »Deracheha« gestoßen, die sich sehr textbasiert mit meinen Fragen beschäftigte. Sie ist eine Initiative der Ye­shivat Har Etzion in Israel. Später habe ich dort auch ein Praktikum gemacht und die Initiatorinnen der Seite kennengelernt. Ich habe ihnen vorgeschlagen, einen Teil der Seite auf Deutsch zu übersetzen. Denn die englische Sprache kann für uns deutschsprachige Jüdinnen auch eine Hürde sein. Oft diskutieren wir auf Deutsch über einen englischen Text, der sich wiederum auf eine hebräische Originalquelle bezieht – dabei geht vieles verloren. Und für die Schülerinnen, die ich aus meiner Arbeit an einer jüdischen Schule in Wien kenne, ist diese Übersetzungsleistung noch anspruchsvoller. Die meisten Religionslehrer müssen daher mit veralteten deutschen Materialien arbeiten, Kopien von Kopien von Kopien. Ich wollte jungen Mädchen eine attraktivere, modernere Möglichkeit bieten, in ihrer Sprache über Halacha zu lernen. Meine Übersetzungen können, so hoffe ich, als Sprungbrett für eine tiefgehende Beschäftigung dienen.

Ein ziemlich ambitioniertes Projekt.
Ich hatte, Gʼtt sei Dank, Menschen, die mich sehr unterstützten, die nochmals mit einem halachischen Auge auf meine Übersetzungen schauten oder mich lektorierten. Die Rabbiner Arie Folger und Mendel Itkin haben mir sehr geholfen, aber auch Frauen wie Laurie Novick von Deracheha und Shoshana Ruerup, die sich schon jahrelang mit jüdischer Tradition beschäftigen, haben einen wichtigen Beitrag zu diesem Projekt geleistet.

Auf welche Schwierigkeiten sind Sie beim Übersetzen gestoßen?
Deracheha richtet sich ursprünglich primär an englischsprachige Leserinnen, die bereits seit dem Kindergarten textbasierte religiöse Bildung genossen haben. Im deutschsprachigen Raum ist das Zielpublikum sehr viel diverser, es gibt vielleicht junge Leserinnen, die noch nie von dem Prinzip gehört haben, dass ich gerade übersetze, oder denen es nichts sagt, wenn ich schreibe: »Das steht so im Schulchan Aruch« – eines der wichtigsten halachischen Werke. Deswegen mussten wir in der Übersetzung viel mehr erklären als im Original. Zeitgleich habe ich versucht, leicht verständlich zu bleiben. Es ist oft eine Balance: Ich möchte die Tiefe und Komplexität der jüdischen Quellen darstellen, aber meine Leserinnen auch nicht überfordern.

Welche Themen sind besonders sensibel zu übersetzen?
Es gibt im Hebräischen Wörter, die ganz anders konnotiert sind als im Deutschen. Nehmen wir zum Beispiel Tahara – häufig mit Reinheit übersetzt. Rein ist im Deutschen das Gegenteil von schmutzig. Rituelle Reinheit hat aber wenig mit physischer Sauberkeit zu tun. Es ist ein Konzept, das für Frauen auch im Umgang mit der eigenen Menstruation relevant wird. Es ist sehr wichtig, da gerade in der Übersetzung für junge Mädchen die richtigen Worte zu wählen.

Warum ist es für junge Menschen so wichtig, mit diesen alten Quellen zu lernen?
Sehr oft ist es so, dass Mädchen und natürlich auch Jungen durch Beobachtung und durch Imitation lernen – sie sehen, wie die Mutter oder die Rebbetzin etwas tut, und schlussfolgern für sich: »So ist das, und so wird das immer sein.« Aber wenn man in die Texte schaut, die diese Vorschriften diskutieren, dann versteht man, dass das, was wir heute machen, ein Desiderat ist – ein kleiner Aspekt einer so vielfältigen Tradition. Die Texte helfen jungen Menschen, besser einzuordnen, was sie in ihrem Umfeld beobachten. Nehmen wir als Beispiel die Mechiza: Vielleicht bin ich es aus meiner Gemeinde gewohnt, dass Frauen hinter einem dicken Vorhang beten, und dann erschrocken, wenn ich in einer anderen Synagoge von der Empore die Männer sehen kann. Es ist dann wichtig zu verstehen, dass auch diese Art der Trennung halachisch vollkommen in Ordnung ist, und ich nicht anfange, das zu verurteilen. Gleichzeitig ist es auch wichtig, eine strengere Auslegung nicht als rückständig oder unmodern zu brandmarken. Viele Frauen fühlen sich genau mit den Traditionen wohl, die in ihren Gemeinden gelebt werden. Ich versuche immer, es neutral zu formulieren: »Manche machen es so, andere so.«

Gab es eigentlich auch Texte, bei denen Sie noch etwas gelernt haben?
Auf jeden Fall. Ich wusste zum Beispiel kaum etwas über die Frage, ob schwangere Frauen auch fasten müssen. Da hat mich die Halacha wirklich beeindruckt. Sie nimmt die Empfindungen der Schwangeren sehr ernst: Fühlt sie sich fit, soll sie genauso wie die anderen auf Essen und Trinken verzichten. Aber wenn die Frau spürt, dass sie zu schwach zum Fasten ist, sagt die Halacha: Du musst dich nicht schlecht fühlen, diese Pflicht existiert für dich jetzt nicht mehr. Weil die Halacha dich berücksichtigt und sie versteht, dass es unterschiedliche Phasen und Bedürfnisse in der Schwangerschaft gibt. Es ist schön, wenn man den Quellen anmerkt, dass Frauen daran mitgewirkt haben, weil die Fragen so nur Frauen gestellt haben können. Das kann auch ein vermeintlich oberflächliches Thema sein, wie zum Beispiel Make-up am Schabbat.

Sie haben in den letzten zwei Jahren fast 90 Texte übersetzt – wie geht es nun für Sie weiter?
Ich werde laufend neue Artikel auf Deracheha auf Deutsch zusammenfassen. Daneben vertiefe ich mich gerade in Bücher, die Frauen vor 100, 200 Jahren geschrieben haben – mit genau derselben Motivation, die ich auch beim Übersetzen für Deracheha hatte. Es geht ihnen darum, Leserinnen Originalquellen näher zu bringen, damit sie eigenständig lernen können, eine persönliche Beziehung zu ihrer religiösen Praxis aufbauen und selbstbewusst ihr Judentum leben können. Darüber will ich mehr lernen.

Mit Hadassah Wendl sprach Mascha Malburg.
Die übersetzten Texte zu Frauen und Mizwot finden sich auf deracheha.org/de

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