Talmudisches

Feigen und Feigenblätter

Sinnbild allgemeinen Wohlstands: die Feige Foto: Getty Images/iStockphoto

Talmudisches

Feigen und Feigenblätter

Warum die positiven Konnotationen dieses großblättrigen Baumes in der Tradition überwiegen

von Rabbiner Netanel Olhoeft  19.11.2021 11:59 Uhr

In der Mischna (Sanhedrin 5,2) lesen wir: »Es kam sogar einmal vor, dass Ben Sakkai die Zeugen über die Stiele der Feigen ausfragte.« Was bedeutet dieser seltsam anmutende Vers?

Bei einer gerichtlichen Zeugenunter­su­chung, in der der Gelehrte Rabban Jochanan ben Sakkai den Vorsitz führte, ging es um Leben und Tod. Wie der Kommentator Owadja Bartenura (1445–1515) ausführt, war jemand unter einem Feigenbaum ermordet worden. Die Zeugen führten den von ihnen vermeintlich beobachteten Mörder vor die Richter, damit dieser für schuldig befunden und hingerichtet werden würde.

zeugen Rabban Jochanan ben Sakkai befragte die beiden Zeugen nach den kleinsten Details des Tathergangs, um sicherzugehen, dass sie nicht gegen einen Unschuldigen komplottierten.

Für dieses rigorose Untersuchungsverfahren gibt es einen bekannten Präzedenzfall: Nach den apokryphen Zusätzen zum Buch Daniel hätten einst zwei alte Männer eine junge verheiratete Frau namens Schoschana in ihrem Garten bedrängt. Da sie sich weigerte, sich ihnen hinzugeben, klagten die beiden angesehenen Männer sie öffentlich an, sie habe mit einem jungen Mann unter einem Baum die Ehe gebrochen. Doch als sie zur Hinrichtung abgeführt wurde, bat der Seher Daniel darum, die beiden Ältesten noch einmal getrennt voneinander nach den von ihnen beobachteten Vorgängen auszufragen.

»Unter welchem Baum schlief Schoschana mit dem jungen Mann?«, fragte er. Einer der alten Männer verwies auf eine Zeder, der andere auf eine Eiche. In dem von der Mischna überlieferten Fall waren Rabban Jochanan ben Sakkais Befragungen noch strenger als jene von Daniel. Denn der Rabbiner fragte nicht nur nach den Bäumen, sondern sogar nach den Stielen der Feigen.

Garten Eden Ähnlich wie hier der Feigenbaum in eine Aura des Verhängnisvollen gehüllt ist, finden wir ihn bereits am Beginn der Weltgeschichte zwielichtig aufleuchten (Sanhedrin 70b): »Rabbi Nechemja sagt: Die verbotene Frucht des Garten Eden war die Feige. Denn durch die Frucht, an der sie sich versündigten, wurden sie letztlich wieder heil, wie es heißt: ›Und sie flochten sich Feigenblätter zusammen und machten sich einen Schurz‹ (1. Buch Mose 3,7).«Halachisch geht der Genuss von Feigen ebenso wie der der anderen sechs Arten mit einem besonderen Segensspruch nach dem Essen einher.

Halachisch geht der Genuss von Feigen mit einem besonderen Segensspruch nach dem Essen einher.

Wie die Feige hier der Menschheit letztlich doch helfend zur Seite stand, so überwiegen in der Tradition die positiven Konnotationen dieses großblättrigen Baumes. So ist die Feige eine der sieben Arten, in denen der Segen des Landes Israel ganz besonders aufschimmert: »Ein Land des Weizens und der Gerste, wie auch der Rebe und der Feige« (5. Buch Mose 8,8).

Halachisch geht der Genuss von Feigen ebenso wie der der anderen sechs Arten daher auch mit einem besonderen Segensspruch nach dem Essen einher (Me’ejn Schalosch). Und gleich wie die Feige in diesem Vers direkt nach der Traube genannt wird, finden wir sie überhaupt oft mit dieser gepaart. So berichtet uns etwa Raschi (1040–1105), dass Noach auf seine Arche neben einigen Rebenzweigen auch Feigenbaumäste mitnahm, um deren Anbau nach der Flut zu fördern.

MESSIANISCH Daher ist die Feige auch Sinnbild allgemeinen Wohlstands. So wie zur Zeit Schlomos jeder unbekümmert und frohgemut unter seinen Reben und Feigen habe sitzen können (1. Könige 5,5), werde diese idyllische Szenerie auch in der messianischen Zukunft wieder Wirklichkeit erlangen (Micha 4,4).

In diesem Sinn ist die Feige auch ein Symbol des Lernens (Bamidbar Rabba 21,15): »Die meisten Obstbäume werden mit einem Mal abgeerntet. Feigen aber pflückt man nacheinander über einen längeren Zeitraum. So ist auch die Tora: Nicht in einem Jahr wird sie erlernt und nicht in zweien (sondern das ganze Leben lang).«

Doch nicht nur für das geistige, sondern auch für das leibliche Wohl können wir etwas von der Feige lernen: »Feigen, Trauben und Mandeln sind immer gesund, egal ob frisch oder getrocknet« (Rambam, Mischne Tora, Hilchot Deot 4,11).

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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