Taanit Esther

Fasten für die Rettung

leerer Teller
Am Fastentag von Esther soll der Teller leer bleiben. Foto: Getty Images

Purim ist – zumindest in Friedenszeiten – ein Tag der grenzenlosen Freude. Es herrscht eine ausgelassene Stimmung, Kinder und Erwachsene verkleiden sich, und Alkohol fließt in Strömen.

Doch kurz bevor dieser außergewöhnliche Feiertag am 14. Adar eintritt, gibt es den Brauch, am 13. Adar (also am Tag des 16. März) zu fasten. Dieser Fastentag trägt den Namen Taanit Esther, der Fastentag von Esther. Und in Zeiten des Krieges könnte dieser Tag gerade für Juden in der Ukraine eine besondere Bedeutung erhalten.

Im Gegensatz zu anderen Fastentagen im jüdischen Kalender, die an tragische Ereignisse in der Geschichte des jüdischen Volkes erinnern und Trauergesetze vorschreiben, gibt es an Taanit Esther außer dem Fasten keine anderen Beschränkungen.

UNTERSCHIED Ein weiterer Unterschied zwischen Taanit Esther und den anderen Fastentagen besteht darin, dass der Brauch, am 13. Adar zu fasten, weder in der Mischna noch im Talmud explizit erwähnt wird. In der Megillat HaTaanit (wörtlich »Schriftrolle des Fastens« – Sammlung von Gesetzen bezüglich Fastentagen aus der Zeit der Mischna) steht sogar, dass das Fasten am 13. Adar nicht gestattet ist (laut Talmud Rosch Haschana 18b sind die Gesetze dieser Schriftrolle nicht mehr bindend).

Der Brauch, am 13. Adar zu fasten, wird erstmals im Midrasch (Tanchuma Bereschit 3) und in den Scheiltot (Responsen Wajikra 67,18) von Raw Achai Gaon (939–1038) erwähnt, einem der bedeutendsten Gelehrten aus der Zeit der Gaonim.

Esther stellte die Bedingung, dass das jüdische Volk gemeinsam mit ihr drei Tage und drei Nächte fasten solle.

Es gibt verschiedene Meinungen unter den Rischonim, den Gelehrten des Mittelalters, woran Taanit Esther erinnern soll. Rabbi Yakov Ben Ascher (1269–1343) zitiert in seinem Werk Arba Turim eine Meinung, dass dieser Fastentag, wie schon der Name andeutet, an das dreitägige Fasten von Esther erinnern soll, das in der Megilla erwähnt wird.

verschwörung Nachdem Mordechai von Hamans Verschwörung gegen die Juden erfahren hatte, benachrichtigte er seine Nichte, Königin Esther, und beauftragte sie, vor König Achaschwerosch zu erscheinen und um Gnade für das jüdische Volk zu bitten. Esther versuchte, Mordechai davon zu überzeugen, dass man sie für das unerlaubte Erscheinen vor dem König mit dem Tode bestrafen würde, aber vergebens.

Letztendlich willigte Esther ein, ihr Leben für das jüdische Volk zu riskieren und ungerufen zu einer Audienz zu erscheinen. Sie stellte aber die Bedingung, dass das jüdische Volk gemeinsam mit ihr drei Tage und drei Nächte fasten solle.

In der Megilla heißt es: »Geh, versammle alle Juden, die in Schuschan wohnen, und fastet für mich; ihr sollt weder essen noch trinken, drei Tage und drei Nächte. Ich und meine Mägde werden ebenfalls fasten« (Esther 4,16).

vorschriften Zum Ende der Megillat Esther, nachdem das jüdische Volk seine Feinde besiegt hatte, wird beschrieben, welche Vorschriften Mordechai und Esther in Erinnerung an die Purimgeschichte festgelegt hatten: »Diese Purimtage sollen zu ihrer rechten Zeit abgehalten werden, wie der Jude Mordechai – und Königin Esther – sie dazu verpflichtet haben, und wie sie sich und ihre Nachkommen zum Klagen und zum Fasten verpflichtet haben« (Esther 9,31).

Wir verdanken den Sieg nicht nur den Kämpfern, sondern auch denen, die dafür fasten und beten.

Laut dieser Meinung bezieht sich das erwähnte Fasten auf die Fastentage von Esther. Manche Juden pflegten sogar den Brauch, ebenfalls drei Tage im Monat Adar zu fasten (nicht hintereinander, sondern Montag, Donnerstag, Montag). So steht es auch im Traktat Sofrim in den Kapiteln 17 und 21. Die Problematik mit dieser Ansicht besteht darin, dass Esthers dreitägiges Fasten nicht im Adar stattfand, sondern im Nissan (siehe Megilla 15a und Midrasch Esther Rabba 8,5). Auch das Fasten zum Ende der Megilla bezieht sich laut den meisten Kommentatoren nicht auf das Fasten von Esther, sondern auf die vom Propheten Secharja (8,19) aufgezählten Fastentage.

Daher ist Rabbenu Tam, Rabbi Jakov Ben Meir (1100–1171), einer der führenden Talmudisten, der Ansicht, dass Taanit Esther nicht an das Fasten von Esther erinnern soll, sondern an das Fasten am 13. Adar, dem Tag des Kampfes gegen ihre Feinde (Tosafot Megilla 2a).

AMALEK Zwar wird dieses Fasten in der Megillat Esther nicht erwähnt, aber Rabbenu Tam geht davon aus, dass das jüdische Volk an diesem entscheidenden Tag sicherlich fastete, so wie es Mosche Rabbenu und das jüdische Volk damals taten (siehe Mechilta Beschalach), als sie in der Wüste von Amalek angegriffen wurden. Jedoch stellt sich die Frage: Warum wird dieser Fastentag Taanit Esther dann »Fastentag von Esther« genannt, wenn er nicht an das Fasten von Esther, sondern an das Fasten am Tag des Krieges erinnern soll?

Möglicherweise möchten unsere Weisen lehren, dass wir den Sieg nicht nur denjenigen verdanken, die das jüdische Volk physisch verteidigt haben, sondern auch solchen wie Königin Esther, die für die Rettung des jüdischen Volkes beteten und fasteten. Daher wurde dieser Fastentag nach Esther benannt.

Auch jetzt gibt es zahlreiche prominente Rabbiner, die angesichts des schrecklichen Krieges neben der finanziellen Unterstützung auch zum »spirituellen Handeln« auffordern. So veröffentlichten die Moetzet Gdolei HaTorah (»Rat der großen Toraweisen«, Oberster rabbinischer Entscheidungsrat) in Israel und in den USA offizielle Schreiben, in denen sie alle Juden zum intensiven Beten für das Ende des Leidens in der Ukraine aufrufen.

kriegszeiten In der Mischna (Taanit 3,5) steht, dass man in Kriegszeiten Fastentage ausruft, jedoch ist das aufgrund der Schwäche der Menschen nicht mehr üblich. Doch falls der Krieg andauert, wäre Taanit Esther eine gute Gelegenheit, beim Fasten auch die Menschen in der Ukraine im Sinne zu haben. Laut allen Meinungen ist Taanit Esther »nur« ein Brauch. Daher legt Rabbi Mosche Isserles in seinem Kommentar zum Schulchan Aruch (Orach Chaim 686,1) fest, dass Schwangere, Stillende und Kranke ausgenommen sind.

Rabbi Joseph Ber Soloveitchik (1903–1993) erklärt, dass Taanit Esther essenziell für die Freude am nächsten Tag ist: Um die außergewöhnliche Rettung des jüdischen Volkes an Purim richtig feiern zu können, müsse man sich zunächst der ausweglosen Situation und Gefahr bewusst sein, in der sich das jüdische Volk befand. Somit sei Taanit Esther nicht einfach ein Fastentag vor Purim, sondern eine Vorbereitung auf Purim. Deswegen gibt es an diesem Fastentag im Gegensatz zu den anderen Fastentagen keine Trauergesetze. Im Gegenteil, die Stimmung von Purim liegt schon in der Luft.

Der Autor ist angehender Rabbiner. Er studiert am Jerusalem Kollel.

Debatte

Rabbiner für Liberalisierung von Abtreibungsregelungen

Das liberale Judentum blickt anders auf das ungeborene Leben als etwa die katholische Kirche: Im jüdischen Religionsgesetz gelte der Fötus bis zur Geburt nicht als eigenständige Person, erklären liberale Rabbiner

von Leticia Witte  11.12.2024

Vatikan

Papst Franziskus betet an Krippe mit Palästinensertuch

Die Krippe wurde von der PLO organisiert

 09.12.2024

Frankfurt

30 Jahre Egalitärer Minjan: Das Modell hat sich bewährt

Die liberale Synagogengemeinschaft lud zu einem Festakt ins Gemeindezentrum

von Eugen El  09.12.2024

Wajeze

»Hüte dich, darüber zu sprechen«

Die Tora lehrt, dass man ein Gericht anerkennen muss und nach dem Urteil nicht diskutieren sollte

von Chajm Guski  06.12.2024

Talmudisches

Die Tora als Elixier

Birgt die Tora Fallen, damit sich erweisen kann, wer zur wahren Interpretation würdig ist?

von Vyacheslav Dobrovych  06.12.2024

Hildesheimer Vortrag 2024

Für gemeinsame Werte einstehen

Der Präsident der Yeshiva University, Ari Berman, betonte die gemeinsamen Werte der jüdischen und nichtjüdischen Gemeinschaft

von Detlef David Kauschke  05.12.2024

Naturgewalt

Aus heiterem Himmel

Schon in der biblischen Tradition ist Regen Segen und Zerstörung zugleich – das wirkt angesichts der Bilder aus Spanien dramatisch aktuell

von Sophie Bigot Goldblum  05.12.2024

Deutschland

Die Kluft überbrücken

Der 7. Oktober hat den jüdisch-muslimischen Dialog deutlich zurückgeworfen. Wie kann eine Wiederannäherung gelingen? Vorschläge von Rabbiner Jehoschua Ahrens

von Rabbiner Jehoschua Ahrens  05.12.2024

Chabad

Gruppenfoto mit 6500 Rabbinern

Tausende Rabbiner haben sich in New York zu ihrer alljährlichen Konferenz getroffen. Einer von ihnen aber fehlte

 02.12.2024