Ethik

Familienplanung auf Eis

»Social Freezing«: Apple und Facebook bezahlen weiblichen Mitarbeitern das Einfrieren ihrer Eizellen. Foto: Thinkstock

Um Arbeitnehmer für ein Unternehmen zu gewinnen, sie zu halten und eine gute Atmosphäre am Arbeitsplatz zu schaffen, genügten einst eine unentgeltliche Kantinenverpflegung, die Übernahme der Kosten für den öffentlichen Nahverkehr und vielleicht noch Kinderbetreuung sowie ein Fitnesscenter. Das hat sich inzwischen geändert.

Technologiefirmen im Silicon Valley und anderswo denken sich inzwischen merkwürdige Extraleistungen für ihre Angestellten aus. Facebook-Mitarbeiter können ihr Fahrrad reparieren lassen oder den Friseur an den Schreibtisch bestellen, bei Dropcam können Angestellte ihre Freunde zu einem Hubschrauberflug einladen, und bei Google gibt es Nap Pods, eine Mischung aus Raumschiff und Kokon, in dem die Beschäftigten zwischendurch ein Nickerchen machen können.

freezing
Die jüngsten Offerten von Apple und Facebook sind nun ebenso umstritten wie schlagzeilenträchtig: Diese Firmen bezahlen ihren Mitarbeiterinnen »Social Freezing«, das heißt, sie können ohne medizinische Indikation Eizellen einfrieren lassen.

Obwohl der Frauenanteil in der IT-Branche mit etwa 30 Prozent nicht besonders hoch ist, finden sich dennoch relativ häufig weibliche Führungskräfte an der Spitze: Marissa Mayer leitet Yahoo, Meg Whitman Hewlett-Packard, viele andere leiten vielversprechende Start-ups. Frauen machen Karriere, nicht nur in der IT-Branche. Dabei wird der Kinderwunsch nicht selten hintangestellt. Relevant ist dabei auch, dass sich Frauen heutzutage immer später entscheiden, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen.

Ist dieses neue Angebot von Facebook und Apple also lediglich ein Beitrag zur Förderung der Erwerbstätigkeit von Frauen? Oder ist da etwas Finsteres am Werk, ein Plan, Frauen möglichst lange davon abzuhalten, ihrem Kinderwunsch nachzugeben? Wann sollen Frauen ein solches Angebot ihres Arbeitgebers wahrnehmen? Tun sie das, weil Mister Perfect noch nicht aufgetaucht ist? Und was sagt das Judentum dazu?

chemotherapie Wie bei vielen halachischen Fragen kommt es auch hier darauf an, wie man sie stellt. Ein Beispiel: Leidet eine Frau an Krebs und soll sich einer Chemotherapie unterziehen, bei der vermutlich ihre Eierstöcke geschädigt werden, ist es sicherlich erlaubt, Eizellen einfrieren zu lassen. Die Gefahren bei diesem medizinischen Eingriff sind relativ klein – auch wenn für die Frau ein zumindest geringes Risiko besteht, dabei zu sterben –, und im Vergleich zur Chemotherapie werden die Hormone, die für dieses »Freezing« eingenommen werden, deutlich geringere gesundheitliche Schäden verursachen. Vermutlich wird die Aussicht, dass die Patientin eines Tages eigene Kinder haben kann, ihr darüber hinaus Mut und Hoffnung machen und sie vor möglichen Depressionen während der Behandlung bewahren.

Die Patientin nimmt vor dem Freezing eine große Menge Hormone ein und muss für den Eingriff betäubt werden. Die Narkose birgt ein unmittelbares Risiko in sich, langfristige Auswirkungen der hormonellen Behandlung sind noch nicht bekannt. Eine Garantie, dass das Einfrieren das gewünschte Ergebnis bringt, kann niemand geben. Und für Eizellen guter Qualität muss die Patientin jung sein, auf jeden Fall unter 30 Jahre alt. Meist aber sind die Nutzerinnen dieses sogenannten Social Freezing älter.

ethikrat Der deutsche Ethikrat hat sich deshalb zum Social Freezing negativ positioniert. In einem Interview mit dem Onlineportal tagesschau.de sagte der Gynäkologe Michael von Wolff: »Die Chancen dieser Technik sind nicht gut genug, als dass man sich bei seinem Kinderwunsch wirklich darauf verlassen könnte. Wenn Frauen beim Einfrieren der Eizellen unter 35 sind, beträgt die geschätzte Geburtenrate pro Stimulation ungefähr 40 Prozent. Bei 35- bis 39-Jährigen sind es 30 Prozent, und wenn sie es mit 40 bis 44 Jahren machen, dann sind es ungefähr zehn Prozent.« Ähnlich hatte sich Rabbiner Yuval Sherlow, Rosch (Leiter) der Hesder-Jeschiwa im israelischen Petach Tikva, bereits im Jahr 2011 geäußert.

Dazu eine Geschichte aus dem Talmud (Berachot 32b). Dort wird von einem Chassiden erzählt, einem besonders frommen Mann, dem während er betete. ein Fürst begegnete. Der Fürst grüßte den Chassiden, doch dieser unterbrach weder sein Gebet noch erwiderte er den Gruß. Daraufhin wartete der Fürst, bis der Chassid sein Gebet beendet hatte und wies ihn dann zurecht: »Du Verrückter! In eurer Tora steht doch geschrieben: ›Nur hüte dich und hüte deine Seele sehr‹ (5. Buch Mose 4,9) und ›So hütet eure Seelen sehr‹ (4,15). Warum erwidertest du meinen Gruß nicht? Hätte ich dich enthauptet, wer hätte mich schon wegen deines Blutes angeklagt?« Zwar gab ihm der Chassid eine kluge Antwort, die der Fürst akzeptierte, doch lehrt uns diese Geschichte, dass wir uns nicht einfach so einer Gefahr aussetzen dürfen.

mister perfect Es kommt also auf die Fragestellung an. Als sich eine Frau an das Jerusalemer Institut für Dajanut wandte und wissen wollte, ob in ihrem Fall künstliche Befruchtung erlaubt sei, da sie mit 38 Jahren noch nicht dem Mann fürs Leben begegnet sei, gab ihr der Rabbiner den Rat, ihre Eizellen einfrieren zu lassen. Wenn also die biologische Uhr tickt, ist diese Maßnahme durchaus zu rechtfertigen. Jedoch werden mit dieser Antwort keineswegs alle Fragen geklärt, die sich in diesem Zusammenhang stellen.

Will eine Frau dann nach dem Freezing schwanger werden, werden ihr gleich mehrere befruchtete Eizellen implantiert. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass das Verfahren Erfolg hat, gleichzeitig wird aber auch eine Mehrlingsschwangerschaft wahrscheinlicher. Nach Meinung vieler halachischer Entscheider (Poskim) ist die Abtreibung eines gesunden Fötus im Fall einer Mehrlingsschwangerschaft ebenso untersagt.

Zu guter Letzt darf man nicht ignorieren, dass diese ganze Frage nur deshalb aufgekommen ist, weil die Gesellschaft als Bedingung für die Gleichheit der Geschlechter im Geschäftsleben erwartet, dass Frauen ihre Familienplanung – im wahrsten Sinne des Wortes – auf Eis legen. Man kann also das Angebot von Apple und Facebook auch als Hinweis darauf sehen, dass Frauen nur dann gern eingestellt werden, wenn sie keine Kinder bekommen. Für eine Karriere, so die Botschaft, hat man die Erfüllung des Kinderwunsches so lange wie möglich aufzuschieben.

Für die Gesellschaft ist diese Entwicklung problematisch. Die Geburtenrate ist ohnehin viel zu niedrig. Das Letzte, was wir brauchen können, sind weitere Gründe, später zu heiraten und Kinder zu bekommen. Dabei spielt die verbreitete Hoffnung, einem Traumprinzen oder einer Schönheitskönigin zu begegnen, keine unwesentliche Rolle in unserer wachsenden Unfähigkeit, den Lebenspartner zu finden, den Schidduch, mit dem man gemeinsam durchs Leben geht.

kinderwunsch Rabbi Elieser Melamed, Rosch der Hesder-Jeschiwa im israelischen Har Berache, erzählte von einer Gruppe von rund zehn Singlefrauen, die alle endlich ihren Zukünftigen treffen wollten. Zusammen halfen sie sich gegenseitig, die Misserfolge bei der Partnersuche zu bewältigen und einander Mut zu machen. Jedoch blieben sie alle über Jahre hinweg ohne Partner, keine fand den richtigen Mann. Je mehr sie sich dem 30. Lebensjahr näherten, desto verbitterter wurden sie – bis eines Tages eine verheiratete Freundin mit vier Kindern Witwe wurde. Die Gruppe nahm das als Herausforderung: Im folgenden Jahr halfen sie der Frau und überlegten sich, dass es vielleicht doch besser sei, Single zu sein als eine Witwe, die vier Kinder allein aufziehen muss.

Nach Ablauf des Jahres verlobte sich die Witwe mit einem Witwer, der selbst sieben Kinder hatte. Die Freundinnen waren sprachlos: »Was, so schnell? Und wie ist sie bereit, auch seine sieben Kinder zu erziehen?« Doch sie akzeptierten die Entscheidung ihrer Freundin und freuten sich mit ihr über die Hochzeit. Interessanterweise fanden innerhalb der nächsten zwei Jahre mehrere dieser Frauen endlich einen Partner. Einige der Männer waren zuvor noch nicht verheiratet gewesen, andere waren verwitwet oder geschieden.

Das zeigt: Die endlose Suche nach Mister Perfect und der gewaltige Druck am Arbeitsplatz führen oft dazu, die falsche Frage zu stellen. Richtig ist, darüber nachzudenken, welche Gesellschaft wir wollen, und wie wir verhindern können, in die Falle zu geraten, die – ob böswillig oder mit den besten Absichten – von Apple, Facebook und Co. gelegt wurde.

umdenken Die amerikanische Bloggerin Penelope Trunk verweist auf eine Alternative, die in rabbinischen Kreisen auf Interesse stoßen dürfte: Statt sich erst der Karriere zu widmen und Ehe sowie Kinder aufzuschieben, schlägt sie vor, zuerst eine Familie zu gründen und danach die berufliche Karriere zu starten. Dazu zitiert sie die Soziologin Phyllis Moen von der Universität Minnesota: »Warte nicht auf den richtigen Zeitpunkt in der Karriere, um ein Baby zu bekommen, denn jener Moment wird nicht kommen.«

Während der Ausbildungs- und Studienzeit haben junge Frauen – und auch Männer – meist mehr Freizeit als zu Beginn der beruflichen Tätigkeit: So können sie besser für kleine und bedürftige Kinder sorgen. Und wenn sie schon in dieser Zeit Eltern werden, muss später die Karriere nicht für eine Geburt und Elternzeit unterbrochen werden. Wer diesem Rat folgt, würde sich übrigens gleichzeitig an die talmudische Ermahnung halten, früh zu heiraten. Wie unsere Weisen auch in diesem Zusammenhang den Propheten Jesaja (45,18) zitierten: »Denn also spricht der Ewige, der Schöpfer des Himmels, der G’tt, der die Erde gebildet und bereitet hat; Er hat sie nicht erschaffen, dass sie leer sein soll, sondern um bewohnt zu sein, hat Er sie gebildet.«

Wollen Apple und Facebook ihre Arbeitnehmerinnen also wirklich unterstützen, dann sollten sie – statt das sogenannte Social Freezing zu finanzieren – lieber Teilzeitarbeit ermöglichen und Kinderkrippen sowie Kindergärten zur Verfügung stellen.

Der Autor ist Mitglied des Beirats der Orthodoxen Rabbinerkonferenz.

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