Götzendienst

Falscher Führer

Dem Guru verfallen: Ewa Aulin als Candy in der gleichnamigen Fantasykomödie (USA/Italien 1968) mit Marlon Brando als Guru Grindl (l.) Foto: cinetext

Die »Zehn Gebote« kennt jeder. Doch die Rabbinen hatten etliche Probleme mit diesem Begriff, der auf Hebräisch »Asseret HaDibrot« heißt, »die zehn Wörter«. In vielen Gemeinden wurde entschieden, nicht aufzustehen, wenn sie gelesen werden. Man wollte nicht den falschen Eindruck erwecken, diese zehn seien die einzigen wichtigen Gebote. Schließlich gibt es, so die Rabbanim, noch 603 weitere. Auch wie man die zehn Gebote zählt, und wo man zwischen den Versen unterscheidet, war und bleibt eine Frage.

Aber es gibt andere, womöglich wichtigere Fragen. Zum Beispiel sagt Gott im 2. Buch Moses 20, 1-2 nicht: »Ich bin Gott«, sondern »Ich bin der Gott, der euch aus der Sklaverei befreit hat«. Gott relativiert sich, indem er sich selbst beschreibt, als einen Gott, der in die Geschichte eingegriffen hat. Und Gott sagt auch nicht: »Ich bin der einzige Gott«, sondern: »Ich bin der einzige, der für euch ist. Ihr sollt keinen anderen Göttern dienen!« Heißt das, es gibt mehr als einen Gott? Das würde jedoch gegen alle Prinzipien des Monotheismus verstoßen.

Im Wochenabschnitt Beschalach für den vergangenen Schabbat haben die Israeliten gesungen: »Mi Kamocha Be’Elim, Adonai?« – »Wer ist wie Du unter den Göttern, o Herr« (2. Buch Moses 15, 11). Natürlich ist das eine rhetorische Frage, aber auch eine theologische. Die Israeliten haben etliche Jahrhunderte in einem Land gelebt, wo mehreren Göttern gedient wurde. Die zehn Plagen sind ein Krieg gegen die anderen Götter: die Sonne, den Fluss, die Fruchtbarkeitsgötter, die heiligen Tiere und, und, und.

Wahn Es bleibt eine verführerische und gefährliche Sache, andere Götter aufzustellen. Doch ist es bis in die moderne Zeit passiert. In den 40er-Jahren brachte das »Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben« in Eisenach eine überarbeitete Ausgabe des »Neuen Testaments« heraus, ein »Volkstestament«. Es hieß Die Botschaft Gottes. Die Lektoren hatten all jene Passagen und Fakten aus den überlieferten Texten getilgt, die ihnen als »jüdisch« galten. Es ging so weit, dass nach dieser Lesart selbst Jesus kein Jude mehr war. Die Bekennende Kirche kämpfte zwar gegen diesen Wahn und sah darin einen Verstoß gegen das erste Gebot. Doch die Nazis brachten ihre eigenen zwölf Gebote heraus, die die »jüdischen« Zehn Gebote ersetzen sollten.

Es ist wissenschaftlich und theologisch interessant zu sehen, wie intelligente und gebildete Menschen versuchten, die Zehn Gebote umzuschreiben und welche Wörter sie benutzen, um jeden Anklang an das jüdische Original zu vermeiden. Trotz großen Widerwillens soll dieser bizarre Text, aus rein wissenschaftlichen Gründen, hier zitiert werden:

»1. Gibt Gott die Ehre, und vertraue ihm von ganzem Herzen!
2. Suche die Stille vor Gott!
3. Meide alle Heuchelei!
4. Heilig sei dir Leib und Leben!
5. Heilig sei dir Gut und Ehre!
6. Heilig sei die Wahrheit und die Treue!
7. Ehre Vater und Mutter, deinen Kindern sei Helfer und Vorbild!
8. Halte das Blut rein und die Ehe heilig!
9. Wahre und mehre das Erbe der Ahnen!
10. Sei immer bereit zu helfen und zu vergeben!
11. Ehre Führer und Meister!
12. Diene freudig dem Volk mit Arbeit und Opfer!
So will es Gott von uns.«

Eine Chuzpe natürlich – obwohl man gegen die meisten Gebote nichts einwenden kann. Doch Nr. 8 redet plötzlich von Blut, Nr. 11 und 12 stellen Führer und Volk über alle anderen Werte, und ein Verbot des Mordens fehlt gänzlich – vielleicht um Heuchelei (Nr. 3) zu vermeiden?

missbrauch Wir wissen, wozu ein Volk fähig ist, wenn es nur an sich selbst und seinen Führer glaubt. Schlimm ist der Missbrauch des Gottesnamens (2. Buch Moses 20,7). Tausende Beispiele gibt es dafür, nur eines sei genannt: In einer Rede vor dem Reichsverband der Automobilindustrie sagte der deutsche Reichsverkehrsminister Julius Dorpmüller im Februar 1938: »Bei dieser Arbeit ziehen wir unsere Hoffnung aus dem Glauben an die friedliche und zähe Kraft unseres Volkes und an den Mann, dem Gott die Führung dieses Volkes in die Hand gegeben hat. In ihm vereinigen sich all unsere Hoffnungen, unsere Wünsche und unsere Zuversicht.«

Welch Frevel, alle Zuversicht, Hoffnung und Wünsche in einen Menschen zu setzen! Die Folgen davon reichen, wie wir wissen, bis in die dritte und vierte Generation. Die sogenannten Zehn Gebote aber sind nach wie vor hoch aktuell und werden es auch in Zukunft bleiben. Denn jede Zeit braucht Verbote gegen Mord, Neid, Raub, Ehebruch, Lüge und falsche Götter genauso wie Gebote für Ruhe, Besinnung und Respekt vor dem Schöpfer und seiner Schöpfung.

Der Autor ist Landesrabbiner der liberalen Gemeinden von Schleswig-Holstein.

Chol Ha-Moed

Grund allen Seins

Die 13 Middot, die »Gʼttlichen Eigenschaften«, enthalten universelle Verhaltensnormen für alle Menschen

von Rabbiner Joel Berger  26.04.2024

Essen

Was gehört auf den Sederteller?

Sechs Dinge, die am Pessachabend auf dem Tisch nicht fehlen dürfen

 23.04.2024

Korban Pessach

Schon dieses Jahr in Jerusalem?

Immer wieder versuchen Gruppen, das Pessachopfer auf dem Tempelberg darzubringen

von Rabbiner Dovid Gernetz  22.04.2024

Pessach

Kämpferinnen für die Freiheit

Welche Rolle spielten die Frauen beim Auszug aus Ägypten? Eine entscheidende, meint Raschi

von Hadassah Wendl  22.04.2024

Essen

Was gehört auf den Sederteller?

Sechs Dinge, die am Pessachabend auf dem Tisch nicht fehlen dürfen

 23.04.2024

Mezora

Die Reinheit zurückerlangen

Die Tora beschreibt, was zu tun ist, wenn Menschen oder Häuser von Aussatz befallen sind

von Rabbinerin Yael Deusel  18.04.2024

Tasria

Ein neuer Mensch

Die Tora lehrt, dass sich Krankheiten heilsam auf den Charakter auswirken können

von Yonatan Amrani  12.04.2024

Talmudisches

Der Gecko

Was die Weisen der Antike über das schuppige Kriechtier lehrten

von Chajm Guski  12.04.2024

Meinung

Pessach im Schatten des Krieges

Gedanken zum Fest der Freiheit von Rabbiner Noam Hertig

von Rabbiner Noam Hertig  11.04.2024