Standpunkt

Es reicht für alle

Aus welchen Gründen auch immer − in erster Linie natürlich aus Egoismus − schaffen wir es als wohlhabender Teil der Menschheit nicht, den weniger Glücklichen genügend Nahrung zu geben.

Der Hunger in der Welt nimmt immer weiter zu. Aus biblischer Sicht hat seine Bekämpfung höchste Priorität. Einer meiner Lehrer pflegte zu sagen: »›Wenn es der Mensch will, wird niemand mehr Hunger leiden müssen.‹ König David sagte schon vor 3000 Jahren in seinen Psalmen (136,25): ›… der allem Fleisch zu essen gibt, denn seine Güte währt ewig.‹ Es ist nicht die Aufgabe des höchsten Wesens. Es gibt genug Nahrung auf der Welt. Es scheint vor allem eine Frage der Gerechtigkeit und der Verteilung zu sein.«

Aus welchen Gründen auch immer − in erster Linie natürlich aus Egoismus − schaffen wir es als wohlhabender Teil der Menschheit nicht, den weniger Glücklichen genügend Nahrung zu geben.

PARADIES Im Tanach werden immer wieder Hungersnöte erwähnt. Vor der Sintflut war die Erde ein Paradies. Man musste nur einmal alle 40 Jahre säen, um genug Nahrung für die gesamte Weltbevölkerung zu erhalten.

Einige Kapitel später lesen wir, dass Awraham gerade erst von G’tt auserwählt worden war, nach Israel zu gehen, als im Heiligen Land eine Hungersnot begann. Awraham musste nach Ägypten fliehen (1. Mose 12,10ff).

Jizchak, unser zweiter Erzvater, hatte ebenfalls mit einer Hungersnot zu kämpfen (26). Auch Jakow, unser dritter Erzvater, erlebte dieses Elend, woraufhin sein Sohn Josef später Vizekönig in Ägypten wurde (41). Und später, zur Zeit der Richter, zwang eine Hungersnot Naomi, Israel zu verlassen (Ruth 1). Sie landete in Moab, wo später König Davids Großvater geboren wurde.

In biblischen Zeiten waren weder Technik noch Logistik weit entwickelt. Hungersnot war Hungersnot. Heute jedoch können wir alles tun, um die Not zu lindern. Doch der Hunger weltweit nimmt zu. Noch im Oktober 2013 meldete das International Food Policy Research Institute (IFPRI), dass die Hungersnot auf dem Rückzug sei. Der damalige Welthunger-Index (GHI) zeigte, dass »nur« noch 19 Länder eine »sehr ernste« Ernährungs­situation hatten − dies waren sieben weniger als 2011. Im Jahr 2015 verpflichteten sich die Staats- und Regierungschefs der Welt auf 17 ehrgeizige Ziele für nachhaltige Entwicklung: die Beseitigung des Hungers bis 2030.

G’tt will nicht, dass Menschen oder Tiere leiden.

Aber wegen der Klimakrise, der Corona-Pandemie und der zunehmenden Ungleichheit geht es leider wieder bergab. Allein im Jahr 2020 hungerten 161 Millionen Menschen mehr als im Jahr zuvor. Im Durchschnitt leiden heute 768 Millionen Menschen an chronischem Hunger. Das sind zehn Prozent der Weltbevölkerung! Ein Skandal.

Als religiöse Menschen haben wir hier ein großes theologisches Problem. G’tt sorgt dafür, dass es auf der Welt genug Nahrung für alle gibt. Wie kann es dann sein, dass heute mehr als eine dreiviertel Milliarde Menschen hungern?

G’tt will nicht, dass Menschen oder Tiere leiden. Dennoch gibt es viel Leid in der Welt. G’tt hat seinen Anteil an der Entfaltung der menschlichen Geschichte. Aber der Mensch mit seinen einzigartigen Talenten muss als Partner G’ttes mitwirken. Er muss eingreifen, sich einmischen! Wir haben die Aufgabe, hier auf der Erde aktiv zu handeln.

PARTNER Der Mensch muss sich von G’tt leiten und inspirieren lassen und sich als verantwortungsbewusster Partner in G’ttes Schöpfung verstehen. Er darf in G’ttes Welt nicht passiv sein, sondern soll als aktiver Teilnehmer handeln. Wir Menschen sind verantwortlich für das Wohl von Mensch und Tier!

In den Zehn Geboten wendet sich G’tt an das ganze Volk – doch stehen die Gebote in der Einzahl, denn G’tt wendet sich an jeden einzelnen Menschen! Aber hat G’tt nicht zur ganzen Nation gesprochen? Ja, das hat Er. Aber neben der Verantwortung der Gruppe gibt es auch eine sehr große persönliche Verantwortung. Die ewig schweigende Mehrheit muss aus ihrer Isolation herauskommen und Charakter zeigen. Wir entweihen den Namen G’ttes, wenn wir nicht alle Menschen mit Nahrung versorgen.

SCHÄTZE Der Talmud berichtet von König Monbaz, der einst in Jahren der Hungersnot seine Schätze an die Armen verteilte. Seine Verwandten waren darüber verärgert: »Deine Vorfahren haben diese Schätze gesammelt und sorgfältig aufbewahrt, während du alles verteilst.«

Der König antwortete: »Meine Vorfahren häuften irdische Schätze an, ich häufe himmlische Schätze an; meine Vorfahren bewahrten ihre Kostbarkeiten an einem Ort auf, wo man sie ihnen wegnehmen konnte, ich bewahre sie an einem Ort auf, den die menschliche Hand nicht erreichen kann. Meine Eltern und Großeltern haben ohne Rendite gespart, ich investiere in rentable Projekte. Meine Vorfahren haben Geld gespart, ich rette Menschenleben. Meine Vorfahren haben ihr Geld für andere gespart, ich investiere für mich selbst: Sie haben für diese Welt gespart, ich lege Geld für die zukünftige Welt zurück« (Bawa Batra 11a).

Der Autor ist Rabbiner und lebt in Israel.

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