Talmudisches

Erziehung zur Wahrhaftigkeit

»Der Vater bitte um Kichererbsen − und sie servierte ihm Linsen.« Foto: Getty Images/iStockphoto

Im Traktat Jewamot lesen wir: »Raw wurde von seiner Frau gepiesackt. Sagte er ihr, sie solle ihm Linsen kochen, so kochte sie Kichererbsen; bat er um Kichererbsen, dann kochte sie Linsen« (63a).

Gern wüssten wir, warum die Frau den Wunsch ihres Mannes nicht erfüllte. Wollte sie ihn provozieren? Raw scheint sich mit der misslichen Lage abgefunden zu haben: Dann hängt der Haussegen eben schief.
Chija, dem Sohn des Ehepaares, gelang es, die unerfreuliche Situation zu wenden: »Als Raws Sohn Chija heranwuchs, bestellte er verkehrt.«

Kichererbsen Raschi erklärt: »Sagte der Vater zum Sohn: ›Richte deiner Mutter aus, sie möge mir Linsen kochen‹, so sagte ihr Chija, der Vater bitte um Kichererbsen − und sie servierte ihm Linsen.« Durch Chijas Umkehrung des Auftrags erhielt der Vater die gewünschte Speise.

Gern wüssten wir, warum die Frau den Wunsch ihres Mannes nicht erfüllte. Wollte sie ihn provozieren?

Chija log seine Mutter an, indem er die Bestellung des Vaters einfach änderte. Durfte er das tun? Rechtfertigt die gute Absicht nach der Halacha das Sagen der Unwahrheit?

In der Regel darf man nach dem Gesetz der Tora nicht lügen. Aber aus mehreren Fällen in der schriftlichen Tora leitet der Talmud ab, dass man um des Friedens willen doch von der Wahrheit abweichen darf.
So wird unserem Stammvater Awraham eine Bemerkung seiner Ehefrau Sara falsch überliefert.

Heilige »In der Schule Rabbi Jischmaels wurde gelehrt: Bedeutend ist der Friede, dass sogar der Heilige, gepriesen sei Er, seinetwegen ein Wort geändert hat. Sara sagte: ›Mein Mann ist alt‹ (1. Buch Mose 18,12), und im folgenden Vers heißt es: ›Da sprach der Ewige zu Awraham …, und ich bin alt‹« (Baba Metzia 87a).

Um den Ehefrieden wiederherzustellen, war es ihm erlaubt, den Auftrag des Vaters zu ändern.

Und im Traktat Jewamot (65b) wird im Namen von Rabbi Eleasar Ben Rabbi Schimon gelehrt: »Man darf des Friedens wegen von der Wahrheit abweichen, denn es heißt (1. Buch Mose 50, 16-17): ›Dein Vater (Jakow) hat geboten … Also sprecht zu Josef: Vergib doch die Missetat deiner Brüder und ihre Schuld!‹« In Wirklichkeit haben Josefs Brüder die Botschaft des Vaters frei erfunden! Denn, wie Raschi erklärt, war Josef in den Augen Jakows überhaupt nicht verdächtig. Die dem Vater zugeschriebene Bitte kann er daher nicht geäußert haben.

Rambam Es gibt noch einige weitere Fälle, in denen ein Abweichen von der Wahrheit zulässig ist. Der Rambam, Maimonides, hat sie in seinem religionsgesetzlichen Werk Mischne Tora kodifiziert (Hilchot Gesela VeAveda 14,13).

Kehren wir nun zu unserer Geschichte zurück. Es fällt nicht schwer, Chijas Tun zu beurteilen: Er wollte die Beziehung zwischen seinen Eltern verbessern. Um den Ehefrieden wiederherzustellen, war es ihm erlaubt, den Auftrag des Vaters zu ändern.

Raw zog es vor, lieber die Respektlosigkeit der Ehefrau zu ertragen, als dass sein Sohn sich an das Aussprechen von Lügen gewöhne.

Raw fiel die positive Entwicklung auf, und er sagte zu seinem Sohn: »Deine Mutter hat sich gebessert!« Chija erwiderte: »Ich bestelle immer verkehrt.« Da sprach der Vater zum Sohn: »Das ist es, was die Leute zu sagen pflegen: ›Der aus dir hervorgeht, belehrt dich.‹« Neidlos stellte Raw damit fest, er hätte die Taktik des Sohnes anwenden sollen.

SOhn Doch wies er seinen Sohn zurecht: »Du aber tu dies nicht mehr! Denn es heißt: ›Sie lehren ihre Zunge Lügen reden‹ (Jirmejahu 9,4).« Auf den ersten Blick ist diese Anweisung unverständlich: Wenn man um des Friedens willen von der Wahrheit abweichen darf – warum sollte Chija dies nicht mehr tun? Rabbi Jeschaja HaLevi Horowitz erklärt in seinem Werk Schnej Luchot HaBrit Raws Argumentation wie folgt: Nachdem Chija dem Vater einen wahrhaftigen Weg zum Ziel gewiesen hatte, sollte der Sohn es von nun an vermeiden, zu lügen.

Eine andere Erklärung der väterlichen Zurechtweisung hat Rabbiner Menachem Ben Salomon Hame’iri gegeben. Nach Auffassung dieses Talmud-Kommentators darf jemand nur in einem solchen Fall um des Friedens willen von der Wahrheit abweichen, wenn sonst etwas Schlimmes geschehen würde.

Raw war jedoch bereit, die Unbotmäßigkeit seiner Frau zu tolerieren. Er zog es vor, lieber die Respektlosigkeit der Ehefrau zu ertragen, als dass sein Sohn sich an das Aussprechen von Lügen gewöhne.

Interview

»Der Dialog mit dem Vatikan ist regelrecht eingeschlafen«

Maram Stern über den künftigen Papst und den stockenden jüdisch-christlichen Dialog

 29.04.2025

Halacha

Kann ein Jude die Beerdigung des Papstes besuchen?

Papst Franziskus wird diesen Samstag, an Schabbat, beerdigt. Observante Juden könnte das vor komplizierte Fragen stellen

von Vyacheslav Dobrovych  25.04.2025

Schemini

Offene Türen

Die Tora lehrt, auch Fremde freundlich zu empfangen

von Rabbiner Bryan Weisz  25.04.2025

Nachruf

Förderer des katholisch-jüdischen Dialogs, aber auch harter Kritiker Israels

Papst Franziskus im Alter von 88 Jahren gestorben. Sein langjähriger Gesprächspartner, Rabbiner Jehoschua Ahrens, nimmt Abschied

von Rabbiner Jehoschua Ahrens  28.04.2025 Aktualisiert

Chol Hamoed

Nur Mosche kannte die Freiheit

Warum das Volk Israel beim Auszug aus Ägypten ängstlich war

von Rabbinerin Yael Deusel  17.04.2025

Geschichte

Waren wir wirklich in Ägypten?

Lange stritten Historiker darüber, ob die Erzählung vom Exodus wahr sein könnte. Dann kamen die Archäologen

von Rabbiner Igor Mendel Itkin  17.04.2025

Berlin

Berlin: Gericht bestätigt fristlose Kündigung von Rabbiner

Das Berliner Arbeitsgericht hat die fristlose Kündigung eines Rabbiners wegen sexueller Belästigung eines weiblichen Gemeindemitglieds bestätigt

 16.04.2025

Essen

Was gehört auf den Sederteller?

Sechs Dinge, die am Pessachabend auf dem Tisch nicht fehlen dürfen

 11.04.2025

Feiertage

Pessach ist das jüdische Fest der Freiheit - und der Frauen

Die Rolle und Verdienste von Frauen würdigen - dafür ist Pessach eine gute Gelegenheit, sagen Rabbinerinnen. Warum sie das meinen und welchen Ausdruck diese Perspektive findet

von Leticia Witte  11.04.2025