Mizwot

Erziehung zur Demut

Wer die Gebote verinnerlicht, geht leichter durchs Leben und erträgt Schicksalsschläge besser

von Beni Frenkel  30.07.2021 08:42 Uhr

Wer die 613 Gebote der Tora hält, wird nicht mehr vom Unglück verschont als der Unreligiöse. Foto: Marco Limberg

Wer die Gebote verinnerlicht, geht leichter durchs Leben und erträgt Schicksalsschläge besser

von Beni Frenkel  30.07.2021 08:42 Uhr

Die Theodizee zählt zu den höchsten Hürden im Monotheismus. Wie ist es möglich, dass es den »Guten« schlecht geht und den »Bösen« gut? Gerade in Israel tauchte dieser scheinbare Widerspruch in der jüngsten Vergangenheit immer wieder auf.

Zu frisch erscheinen uns die Bilder der Massenpanik Ende April auf dem Har Meron, wo 45 orthodoxe Juden starben. Wochen später kamen junge Chassidim während einer Hochzeit ums Leben. Die Bänke, auf denen sie tanzten, brachen zusammen. Wieder Tote und noch mehr Schwerverletzte. Und schließlich die Corona-Pandemie: Keine andere Bevölkerungsgruppe hatte so viele Todesopfer zu beklagen wie die Ultrareligiösen.

Es erreichen uns nicht nur Todesnachrichten, sondern auch wirtschaftliche Hilferufe aus dem religiösen Sektor: junge Väter, die ihre Familien nicht ernähren können, oder teure Operationen, die von den Krankenkassen nicht übernommen werden und Familien zum Spendenaufruf nötigen.

BELOHNUNG Wer den Wochenabschnitt Ekew aufmerksam liest, ist verwundert: Immer wieder geht es um die göttliche Belohnung für gute Taten. Die Parascha beginnt auch verheißungsvoll: »Und als Belohnung für deine Treue (…) wird sich Gott an den Bund mit dir erinnern.«

Noch deutlicher ist der zweite Abschnitt des Morgengebets, der ebenfalls in Ekew vorkommt. Gott verspricht einen perfekten Regen und die pünktliche Ernte – jedoch nur dann, wenn man sich an die Mizwot hält.

Wer die Gebote der Tora befolgt, so wird in unserem Wochenabschnitt in Aussicht gestellt, wird länger leben dürfen. Gleiches gelte auch für die Kinder (5. Buch Mose 11,21). Doch die Realität sieht anders aus. Die Lebenserwartung der Charedim ist nicht höher als die der Chilonim, der Säkularen. So einfach ist die Formel für ein glückliches Leben also nicht.

Wer nicht raucht, nicht trinkt und keinen Extremsport treibt, lebt möglicherweise länger als ein stark übergewichtiger Rabbiner, der alle Gebote hält. Ist das ein Widerspruch zum Inhalt von Ekew?

Die Motivationsfrage ist ein Thema, das die ganze Tora betrifft. Wenn Gott unseren Urvätern Awraham, Jizckak und Jakow etwas aufträgt, schwingt immer eine Verheißung mit. Unseren Altvorderen wurde eine große Zukunft vorhergesagt. Ihre Nachkommen sollen so zahlreich werden wie der Sand am Meer oder die Sterne am Firmament.
Doch spielt im Judentum der Lohn eine so wichtige Rolle? Eine Analyse des ersten Satzes unseres Wochenabschnitts bringt Klärung: »Und als Lohn für deine Treue (…)«. In der Tora steht nicht der übliche hebräische Ausdruck für Lohn (Sechar), sondern die seltene Bezeichnung »Ekew«, was auch so viel wie »Ferse« bedeutet.

RASCHI Der Bibelkommentator Raschi (1040–1105) erkennt in diesem Wort eine Besonderheit: Gott verspreche uns all das Gute bereits für die Befolgung von Kleinigkeiten. Umso höherer Lohn stehe uns bevor, wenn wir auch die schwierigen Gebote halten.

Wie kommt Raschi auf diese Erklärung? Er leitet sie von der eigentlichen Übersetzung von »Ekew« ab – Ferse. Also: Wer die einfachen Gebote hält, die man normalerweise »mit der Ferse umstößt«, für den steht eine große Belohnung an.

Ich wage es, Raschis Erklärung ein wenig umzudeuten. Doch zuerst eine Begriffserklärung: Was ist ein leichtes, was ein schwieriges Gebot? Am Ende ist das wohl immer Ansichtssache. Einer Mutter mit Kinderwagen in den Bus zu helfen, ist für junge Leute eine einfache Sache, für Ältere jedoch ziemlich anspruchsvoll (Rücken!). Wer jung und gesund ist, für den ist der Kinderwagen leicht. Lohn wird er kaum erwarten, höchstens ein kurzes »Dankeschön« der gestressten Mutter.

Wer einen Segensspruch vor der Mahlzeit sagt, erwartet wohl ebenfalls nicht, dass Gott Goldstücke herabregnen lässt. Zu unbedeutend sind dem Frommen die wenigen Sekunden Andacht. Es gibt Religiöse, die eilen jeden Tag ins Bethaus zum Morgengebet Schacharit. Wer sie fragt, was für einen Lohn sie dafür erwarten, erntet fragende Blicke. Was für uns groß und beschwerlich erscheint, ist für sie eine Selbstverständlichkeit.

Das ist es, was uns die Schrift mitteilen möchte: Wenn dir die himmlischen Gebote so leicht und natürlich erscheinen, wirst du mit irdischen Gütern belohnt. Aber nicht mit Gold, Diamanten und 70 Jungfrauen. Nein, der Regen scheint dir zur passenden Zeit zu fallen, und deine irdische Zeit empfindest du als ein langes und erfülltes Leben.

SELBSTERZIEHUNG Die Rede ist nicht von Verblendung, sondern von Selbsterziehung. Kein anderer Satz drückt das so aus wie der wichtige Vers: »Und du wirst essen, du wirst satt sein, du wirst Gott dafür danken« (9,11). Es gibt Menschen, die essen und die nie satt werden. Und dann gibt es andere Menschen, die wenig essen und davon satt werden.
Wer die 613 Gebote der Tora hält, wird nicht mehr vom Unglück verschont als der Unreligiöse. Eine solche Gleichung wäre zu banal und würde den Menschen nicht zur Frömmigkeit erziehen.

Die Tora ist mehr als ein Almanach von Wundermitteln. Sie ist im besten Falle eine Lebensschule. Die vielen Gebote erziehen uns zur Demut. Wer die Gebote so fest verinnerlicht, als wären sie seine zweite Haut, der geht leichter durchs Leben und erträgt die Schicksalsschläge besser. Nicht, weil er dumm ist oder verklärt durch die Welt läuft. Nein! Die ständige Beschäftigung mit sich, der Welt und der Tora lehrt ihn, die Dinge aus einer anderen Perspektive wahrzunehmen und dankbar zu sein. Für die kleinen und die großen Dinge.

Der Autor ist Journalist in Zürich und hat an Jeschiwot in Gateshead und Manchester studiert.

INHALT
Paraschat Ekew: Der Wochenabschnitt zählt die Folgen des Gehorsams der Israeliten auf. Wenn sie sich an die Gesetze halten würden, dann blieben die Völker jenseits des Jordan friedlich, und es würde sich materieller Fortschritt einstellen. Die bisherigen Bewohner müssen das Land verlassen, weil sie Götzen gedient haben – nicht, weil das Volk Israel übermäßig rechtschaffen wäre. Am Ende der Parascha verspricht Mosche, im Land Israel würden Milch und Honig fließen, wenn das Volk die Gebote beachtet und an die Kinder weitergibt.

5. Buch Mose 7,12 – 11,25

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