Entwicklung

Erziehung zum Beten

Der Tempel des Herodes: Modell im Jerusalemer Israel-Museum Foto: cc

In unserem Wochenabschnitt lesen wir, dass Gott Mosche anordnet, Ihm einen Tempel zu bauen mit allen zugehörigen Gerätschaften. Besonders auffällig sind die detaillierten Angaben über Größenordnung und Material der Geräte. So sind Länge, Breite und Höhe der Menora, die Schaubrote, verschiedene Schüsseln für die Zubereitung von Kräutern und Weihrauch bis ins Kleinste vorgeschrieben.

Wir lesen von purpurroter Wolle, Byssus und Ziegenhaaren, von rot gefärbten Widderfellen, Salböl, Gewürzen, von Gold- und Silberringen, exotischen Hölzern und Kräutern. All dies hat eine besondere Funktion im Tempeldienst, viele Gesetze und Vorschriften bestimmen seinen Ablauf in allen Einzelheiten. Doch wollen wir zunächst unsere Aufmerksamkeit auf den Tempel als Ganzes lenken und grundsätzlich fragen: Warum braucht Gott einen Tempel?

Der Widerspruch dieser Frage ist unübersehbar. Wir können unsere Vorstellung von Gott nur in abstrakten Begriffen wiedergeben. Er ist das Unendliche, der Schöpfer aller Dinge, die Existenz, Er ist vollkommen, ewig, allmächtig und einzig. Wie soll sich Gott auf ein von Menschenhand errichtetes Gebäude beschränken, da das ganze Universum Ihm ein Tempel ist? Er selbst lässt doch durch seinen Propheten Jesaja sagen: »Der Himmel ist Mein Thron, die Erde Meiner Füße Schemel; welches Haus wollt ihr Mir erbauen, und wo ist der Ort, der zu Meiner Ruhe geeignet wäre?« (66,1).

gewohnheit Unser Wochenabschnitt gibt eine mögliche Antwort auf diese Frage. Nicht der gedankenlose und der Gewohnheit folgende Gottesdienst an sich bringt dem Menschen Heil und Glückseligkeit. Im Gegenteil, diese Art Gottesdienst wurde insbesondere von den Propheten kritisiert, wofür das Jesaja-Zitat ein gutes Beispiel ist. Vielmehr sollen wir Menschen im Tempel zur Andacht gelangen, Gott für seine barmherzigen Taten, die er uns in jeder Sekunde zuteil werden lässt, Dank und Lobpreis aus ganzem Herzen und ganzer Seele aussprechen.

Wir müssen uns unseres Judentums gewahr werden, der Wunder gedenken, die Gott an uns vollbracht hat, vom Auszug aus Ägypten bis in die Gegenwart. Davon soll jeder Jude ein lebendiges Zeugnis ablegen. Der Tempel ist also die Vergegenwärtigung all dessen, was die Tora uns lehrt: »Du sollst den Ewigen, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele und deinem ganzen Vermögen« (5. Buch Mose 6,5). In unserem Wochenabschnitt ist dieser Gedanke großartig ausgesprochen: »Ein Heiligtum sollen sie Mir errichten, und Ich werde in ihrem Inneren wohnen!« (2. Buch Mose 25,8).

Unzählige Generationen, woher sie auch vertrieben wurden und wohin sie auch kamen, strebten immer danach, Synagogen zu errichten als Zentren ihres kulturellen Lebens und als Stätten der Toragelehrsamkeit. Das ganze Tempelwesen ist erfüllt von diesem Gedanken. Jedes noch so kleine Gerät birgt eine tiefe Symbolik unserer jüdischen Bestimmung in sich.

fundament Doch der Tempel ist nicht nur ein Symbol für das moralische Fundament des jüdischen Volkes, sondern auch für die Erziehung des Menschengeschlechts, um es mit den Worten Gotthold Ephraim Lessings (1729–1781) auszudrücken. Rambam, Rabbi Mosche ben Maimon (1135–1204), ein Universalgelehrter, der einen starken Einfluss auf den Fortschritt der Medizin und besonders der Philosophie ausübte, vertritt innerhalb des Judentums eine außergewöhnliche Meinung, die dem Tempel eine ganz andere Bedeutung gibt.

Als Vertreter des Rationalismus versucht er, eine schlüssige Erklärung zu finden, warum Gott den Opferdienst angeordnet hat, denn er scheint zur Verbesserung unserer Sittlichkeit nichts beizutragen. Im Gegenteil, das Opferwesen findet sich in jeder antiken Kultur. Wenn aber die Tora von Gott gegeben ist, dem Schöpfer des Universums, der vollkommen ist, warum hat dann das altertümliche Opferwesen einen so hohen Stellenwert? Versuchen wir, uns in Rambams Antwort hineinzudenken.

»Natura non facit saltus« – die Natur macht keine Sprünge – lautet ein bekanntes Sprichwort. Die unveränderlichen Naturgesetze, ihre Harmonie und Notwendigkeit spiegeln Gottes Weisheit wider wie ein Fingerabdruck. Und es ist in der Natur unmöglich, abrupt von einem Extrem ins andere überzugehen.

So wird zum Beispiel aus einem Samen nicht sofort eine voll entwickelte Pflanze, sie muss zuerst verschiedene Entwicklungsstadien durchleben, ihre Blüten wachsen nur sehr langsam. Zur Natur des Menschen gehört, dass er Gewohnheiten nicht von heute auf morgen aufgeben kann. Jemand, der sich entschließt, ein toratreues Leben zu führen, wird nicht alles auf einmal umpflügen. Der Übergang findet langsam statt: Zuerst fängt er an, den Schabbat zu halten, dann wird er die Speisegesetze beachten, später weitere Dinge.

ägypten Der Opferdienst war auf der ganzen Welt verbreitet, auch in Ägypten zur Zeit des Mosche. Für die Menschen dieser Zeit war es üblich, ihren Götzen Tiere als Opfer darzubringen. Das Gegenteil war völlig inakzeptabel; es wäre so gewesen, als ob jemand heute statt Autos wieder Pferde einführen wollte. Da nun Juden mehrere Generationen in Ägypten gelebt hatten, waren sie auch an den Opferdienst gewohnt und betrachteten Tieropfer als unentbehrlich.

Als nun Gott die Kinder Israels aus Ägypten befreite, ließ er die Art des Dienstes noch fortbestehen, aber er machte viele Einschränkungen. Man kann anhand zahlreicher Gesetze erkennen, wie Gott dem Volk Israel Schritt für Schritt den Götzendienst abgewöhnt und sie zum Gottesdienst des Herzens hinführt, dem, was wir heute als Gebet begreifen.

Der erste Schritt war, die Götzenanbetung zu verbieten. Nicht mehr die unzähligen Götzen sollten angebetet werden, sondern nur Gott allein. Im zweiten Schritt bekommt der Tempel das Monopol für das Darbringen aller Opfer. Privat zu opfern, sei es auch im Namen Gottes, steht fortan unter Todesstrafe. Das gewöhnliche Gebet hingegen war erlaubt, Tefillin, Zizit und Mesusot als Elemente des reinen Gottesdienstes werden zur Grundlage. Der dritte Schritt bestand darin, eine Elite auszubilden und den Opferdienst auf einen kleinen Kreis zu beschränken.

Erkenntnis Durch diese Einrichtungen tilgte Gott den Götzendienst aus und verbreitete zugleich den wahren Glauben, so wie ein weiser Vater, der seine Kinder erzieht, in kleinen Schritten ihrer Auffassungsgabe entsprechend. Das ist die Erziehung des Menschengeschlechts, vom Polytheismus zum Monotheismus, vom Opferdienst zum Gottesdienst, vom Laster zur Tugend, Erkenntnis, Gesittung, zur Menschlichkeit.

Natürlich wurde Rambams Ansicht nicht kritiklos hingenommen. Denn wie kann es sein, dass unsere Weisen anordneten, dreimal täglich für die Wiedererrichtung des Opferdienstes zu beten, wenn doch der Tempel nicht Zweck an sich gewesen ist, sondern nur ein Mittel, eine Entwicklungsstufe, die wir hinter uns gelassen haben?

Zwar sagt Rambam nirgendwo, dass der Tempel nur ein Mittel sei, schließlich hat er als Erster den Tempeldienst systematisch bis ins tiefste Detail dargestellt. Trotzdem bleiben viele Fragen unbeantwortet. Aber das Wichtigste im Judentum ist die Frage. Sie treibt uns an, gemeinsam nach Antworten zu suchen. Diese gemeinsame Suche nach Antworten verbindet uns Juden seit Jahrtausenden.

Der Autor lernt an der Yeshivas Beis Zion in Berlin.

Inhalt
Im Wochenabschnitt Teruma fordert der Ewige die Kinder Israels auf, für das Stiftszelt zu spenden. Die Parascha enthält genaue Anweisungen zum Bau der Bundeslade, des Tisches im Stiftszelt, des Zeltes selbst und der Menora. Den Abschluss bilden Anweisungen für die Wand, die das Stiftszelt umgeben soll, um das Heilige vom Profanen zu trennen.
2. Buch Mose 25,1 – 27,19

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