Ki Teze

Erschaffen nach Seinem Bilde

Reflexion: Alle Menschen sind Kinder des Ewigen.

Unsere Parascha beginnt mit der Erwähnung von Krieg, und sie endet mit der Erwähnung von Krieg. Und zwischen »Wenn du ausziehst zum Krieg gegen deine Feinde« und »Gedenke, was dir Amalek tat auf dem Weg« findet sich eine Vielzahl von ethischen Vorschriften, die die große Bandbreite menschlichen Zusammenlebens umfassen und zu allen Zeiten gültig sind, auch in Friedenszeiten. Dabei geht es nicht einfach nur um freundliche Empfehlungen für moralisches Verhalten, sondern um konkrete zivil- und strafrechtliche Vorschriften. Wir erfahren von Tierschutz und Bauvorschriften, erhalten einen Einblick in Arbeits- und Lohnvorgaben, und wir bekommen sogar Hinweise zu Erbrecht und Scheidungsgesetzen.

Es geht aber auch um Straftaten, vom Betrug durch falsche Maße und Gewichte und Unterschlagung von Fund­sachen über Körperverletzung im Rahmen von Schlägereien bis hin zu Vergewaltigung.

Eine Fülle von Rechten und Pflichten wird uns hier vorgelegt, und nicht immer ist der innere Zusammenhang in dieser langen Aufzählung zu erkennen.

Schwache Bei genauerer Betrachtung geht es bei zahlreichen dieser Gesetzes­vorschriften darum, die Rechte von Schwä­cheren und Abhängigen gegen das »Recht des Stärkeren« zu verteidigen: das Mädchen, dem sexuelle Gewalt angetan wird; die Frau, der durch ihren Ehemann Unrecht widerfährt; die Witwe, der ihr Recht durch Verweigerung der Leviratsehe aberkannt wird; der Arme, dem lebensnotwendiger Besitz oder erforderliche Produktionsmittel gepfändet werden; die Bedürftigen, denen das Auflesen von Acker-, Weinbergs- und Ölbaumfrüchten – ein damaliges Äquivalent unserer heutigen »Tafeln« – aus Geiz oder Habgier verwehrt wird; der entflohene Sklave, der um Schutz und Asyl bittet.

Bei all dem soll nicht nur das Recht, sondern auch die Würde dieser schwächeren Menschen berücksichtigt werden. Dass diese Würde nicht mit dem Tod eines Menschen endet, wird ersichtlich aus der Vorschrift, den Leichnam eines Hingerichteten genauso ehrenvoll zu behandeln und ihn umgehend zu bestatten wie den einer jeden anderen verstorbenen Person.

Interessant ist dabei die Ausdrucksweise, ein Gehenkter stelle eine Kilelat Elokim dar, also eine Verletzung, eine Schmähung, gar eine Entwürdigung des Ewigen.

Der einstige britische Oberrabbiner Joseph Hertz (1872–1946) erklärt dazu, dass »der Fluch des Ewigen auf dem Hingerichteten liegt«, denn eine nicht bestattete Leiche sei eine Quelle der Unreinheit, und »du sollst nicht verunreinigen dein Land, das der Ewige, dein G’tt, dir zum Besitz gibt«.

Raschi (1040–1105) spricht dagegen davon, dass es eine Geringschätzung des Ewigen wäre, dem Hingerichteten ein ordentliches Begräbnis zu verweigern, da der Mensch – jeder Mensch! – ja doch im g’ttlichen Bild erschaffen sei und daher die Menschenwürde selbst bei einem Verbrecher gewahrt werden müsse. Zudem hat das vollstreckte Todesurteil bereits das Vergehen des Übeltäters gesühnt.

Midrasch Alle Menschen sind Kinder des Ewigen, von Ihm erschaffen nach seinem Bild. Denken wir an den Midrasch, der davon berichtet, wie die Engel vor Freude singen, als das Heer des Pharao im Schilfmeer ertrinkt, und der Ewige ermahnt sie: Ihr singt, während Meine Kinder umkommen?

In unserer Parascha heißt es wörtlich: »Verabscheue nicht den Mizri, denn ein Fremder warst du in seinem Land.« Was uns Ki Teze lehrt, ist das Recht eines jeden Menschen auf korrekte Behandlung, ja, sogar eines jeden Lebewesens, und zwar in normalen Zeiten ganz genauso wie in Krisenzeiten, wie zum Beispiel eben im Krieg. Und hier schließt sich nun der Kreis unserer Parascha.

Die einleitenden Worte »Wenn du ausziehst zum Krieg gegen deine Feinde« beschreiben eine Situation, in der die Kinder Israels für ihr Volk und für ihr Land kämpfen, indem sie ihre Feinde angreifen. Dagegen erinnert der Schluss unserer Parascha an einen Überfall in einem Moment, in dem nicht die Kinder Israels einen Feldzug planen, sondern völlig unerwartet hinterrücks angegriffen wurden und um ihr Leben kämpfen mussten; als der Feind ihnen nicht entgegenzog, sondern die Schwachen, welche die Nachhut bildeten, unvermittelt angriff. Welch unrühmliches, schändliches Vergehen!

Jedes Jahr am Schabbat Sachor lesen wir diesen Abschnitt noch einmal, und wir verstehen ihn als stete Ermahnung zur Wachsamkeit gegen unsere Feinde, genauer gesagt, gegen eine Bedrohung von außen. Aber ist das wirklich alles, was damit gemeint sein sollte? Handelt nicht unsere ganze Parascha davon, wie wir selbst uns verhalten sollen?

Fünfmal finden wir in Ki Teze die Aufforderung, das Böse hinwegzuschaffen »aus unserer Mitte« oder auch »aus Israel«. Fünf Ermahnungen, wie die fünf Bücher der Tora.

An allen diesen Stellen geht es um das Böse unter uns, um einen Feind also, der die Gemeinschaft von innen heraus angreift und der auf seine Weise mindestens genauso gefährlich ist wie ein Gegner von außen.

Fremde Wie oft begegnet uns in der Tora die Ermahnung, einen Fremden, einen Armen, einen Schutzbedürftigen nicht zu bedrücken, denn unterdrückte Fremde sind die Kinder Israels einst in Ägypten gewesen. Immer wieder werden wir daran erinnert.

Auf seinem Weg von Ägypten in die Freiheit begegneten die Israeliten dem hinterhältigen Amalek und seinen Leuten – eine Katastrophe, an die man sich noch viel weniger gern erinnern mag als an das Leben im fremden Land. Und doch ist es notwendig, um gegen einen Feind von außen auf der Hut zu sein.

Aber in gleichem Maße beinhaltet es die Forderung an uns selbst, die Rechte und auch die Würde aller, gerade auch der Schwächeren, in unserer Mitte zu wahren, nicht zuletzt unsere eigene.

Wohlgemerkt heißt es, »das Böse« sollen wir fortschaffen, nicht »den Bösen«.

Der Jezer hara, der böse Trieb also, steckt schließlich in einem jeden von uns, ebenso wie der Jezer hatow, sein guter Gegenpol. Damit stellen die drei Verse zu Amalek das eigentliche Fazit unserer Parascha dar, vom Maftir wiederholt: Handelt nicht wie Amalek! Denn: »Ein Gräuel ist dem Ewigen ein jeglicher, der Unrecht tut. Gedenke, was dir Amalek getan hat auf dem Weg bei eurem Auszug aus Mizrajim.«

Die Autorin ist Rabbinerin der Liberalen Jüdischen Gemeinde Mischkan ha-Tfila Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).

inhalt
Im Wochenabschnitt Ki Teze werden Verordnungen wiederholt, die Familie, Tiere und Besitz betreffen. Dann folgen Verordnungen zum Zusammenleben in einer Gesellschaft, wie etwa Gesetze zu verbotenen sexuellen Beziehungen, dem Verhalten gegenüber Nicht-Israeliten, Schwüren und der Ehescheidung. Es schließen sich Details zu Darlehen, dem korrekten Umgang mit Maßen und Gewichten sowie Sozialgesetze an.
5. Buch Mose 21,10 – 25,19

Talmudisches

Torastudium oder weltliche Arbeit?

Was unsere Weisen über das rechte Maß zwischen Geist und Alltag lehren

von Detlef David Kauschke  14.11.2025

Chaje Sara

Bewusster leben

Sara hat gezeigt, dass jeder Moment zählt. Sogar ihr Schlaf diente einem höheren Ziel

von Samuel Kantorovych  13.11.2025

Spurensuche

Von Moses zu Moses zu Reuven

Vor 75 Jahren starb Rabbiner Reuven Agushewitz. Er verfasste religionsphilosophische Abhandlungen mit einer Intensität, die an Maimonides und Moses Mendelssohn erinnert. Wer war dieser Mann?

von Richard Blättel  13.11.2025

Wajera

Awrahams Vermächtnis

Was wir vom biblischen Patriarchen über die Heiligkeit des Lebens lernen können

von Rabbiner Avraham Radbil  07.11.2025

Talmudisches

Rabbi Meirs Befürchtung

Über die falsche Annahme, die Brachot, die vor und nach der Lesung gesprochen werden, stünden im Text der Tora

von Yizhak Ahren  07.11.2025

Festakt

Ministerin Prien: Frauen in religiösen Ämtern sind wichtiges Vorbild

In Berlin sind zwei neue Rabbinerinnen ordiniert worden

 06.11.2025

Chassidismus

Im Sturm der Datenflut

Was schon Rabbi Nachman über Künstliche Intelligenz wusste

von Rabbiner David Kraus  06.11.2025

Rezension

Orthodoxer Rebell

Sein Denken war so radikal, dass seine Werke nur zensiert erschienen: Ein neues Buch widmet sich den Thesen von Rabbiner Kook

von Rabbiner Igor Mendel  06.11.2025

Potsdam

Abraham-Geiger-Kolleg ordiniert zwei Rabbinerinnen

In Deutschlands größter Synagoge Rykestraße in Berlin-Prenzlauer Berg werden an diesem Donnerstag zwei Rabbinerinnen ordiniert. Zu der Feier wird auch Polit-Prominenz erwartet

 05.11.2025