Tradition

Erlebtes Wunder

Plünderung der Frankfurter Judengasse 1614 (Stich von Matthäus Merian d. Ä. aus dem Jahr 1630) Foto: picture alliance /

Als im März 1616 die Frankfurter Juden wieder in ihre Häuser zurückkehren durften, muss es sich für sie wie ein wahres Wunder angefühlt haben.

Vier Jahre zuvor hatte in ihrer Stadt der Antisemitismus um sich gegriffen. Der Lebkuchenbäcker Vinzenz Fettmilch forderte mit dem »Bürgerausschuss« vom Rat der Stadt die Ausweisung aller Juden aus Frankfurt, die weniger als 15.000 Taler (umgerechnet etwa 675.000 Euro) besaßen. Am 22. August 1614 rief Fettmilch schließlich zur Plünderung der Judengasse auf. Zwei Juden wurden getötet, die verbliebenen flohen in die umliegenden Städte. Das Pogrom ging als »Fettmilchaufstand« in die Geschichtsbücher ein.

Die Vertreibung endete erst, als Kaiser Matthias einschritt und die Reichsacht über Vinzenz Fettmilch und seine Mitstreiter verhängte. Am 28. Februar 1616 wurden sie auf dem Roßmarkt öffentlich hingerichtet und ihre Köpfe auf Eisenstangen am Brückenturm aufgehangen. Dort baumelten sie fast zwei Jahrhunderte und wurden erst mit dem Abriss des Brückenturms 1801 entfernt. Goethe schreibt, dass er sich erinnert, als Kind den Schädel gesehen und sich für die Geschichte des Aufstandes interessiert zu haben.

Kurz nach Purim konnten die Vertriebenen zurückkehren.

Zwei Wochen nach der Hinrichtung von Vinzenz Fettmilch wurden die vertriebenen Juden von kaiserlichen Soldaten zurück nach Frankfurt eskortiert. Am Eingang der Judengasse wurde ein Adler mit der Inschrift »Unter dem Schutz der Römischen Kaiserlichen Majestät und des Heiligen Reiches« aufgestellt. Die Vertriebenen waren auf beinahe wundersame Weise sicher zurückgekehrt. Und das wenige Tage nach Purim, das sie wohl bereits mit der frohen Nachricht noch in den Exilstädten gefeiert hatten.

In Erinnerung an diese vorübergehende Vertreibung und die Rettung durch den Kaiser wurde in der Jüdischen Gemeinde von Frankfurt der Brauch eingeführt, den Tag der Rückkehr, den 20. Adar, als »Purim Frankfurt« oder »Purim Vinz« (quasi nach dem »Haman« der Geschichte, Vinzenz Fettmilch) zu feiern. Bis heute wird »Purim Frankfurt« in der Gemeinde Kʼhal Adass Jeshurun im New Yorker Stadtteil Washington Heights gefeiert, die sich als Fortsetzung der Jüdischen Gemeinde Frankfurt versteht.

Ein neuer beziehungsweise weiterer Purim

Dieses Phänomen, dass eine Gemeinde für sich einen neuen beziehungsweise weiteren Purim einführt, ist kein Einzelfall. In der jüdischen Literatur werden diese Feiertage, die an eine außergewöhnliche Rettung einer bestimmten Gemeinde vor Vertreibungen, Pogromen und Naturkatastrophen erinnern, als »Purim Scheni« bezeichnet.

Diese Bezeichnung »Zweiter Purim« wird wahrscheinlich von Pessach Scheni abgeleitet. An Pessach Scheni hatten Menschen, die am 14. Nissan nicht in der Lage waren, mit dem gesamten jüdischen Volk das Pessach-Opfer im Tempel darzubringen, die Möglichkeit, es nachzuholen, und ebenso ist Purim Scheni ein Feiertag nur für eine bestimmte Gemeinde oder Gruppe von Menschen. Es gibt mehr als 30 solcher Purim Scheni.

Der erste dokumentierte Purim Scheni trägt den Namen »Purim Ibn Alchesan« und erinnert an die Rettung der jüdischen Gemeinde von Shiraz im heutigen Iran im 12. Jahrhundert. Ein jüdischer Metzger hatte aus Rache nach einem Streit die jüdische Gemeinde vor dem Sultan verleumdet: Er erzählte, sie habe den Islam verflucht, und in der Folge mussten alle Juden von Shiraz zum Islam konvertieren. Doch vor seinem Tod gestand der Metzger, dass er gelogen hatte, und die Juden durften am 11. Schwat wieder öffentlich zu ihrem ursprünglichen Glauben zurückkehren.

Weitere Purim Scheni kamen mit jeweils ganz eigener Verfolgungs- und Erlösungsgeschichte in Kairo (15. Jahrhundert), Rom (16. Jahrhundert), Vilna (18. Jahrhundert), Rumänien (20. Jahrhundert) und vielen weiteren Städten hinzu.

Halachischer Status der Feste

In der rabbinischen Liturgie wird viel über den halachischen Status dieser Feste diskutiert. So beschäftigte sich bereits der mittelalterliche Gelehrte Rabbi Mosche Ben Jizchak Alashkar (1466–1542) mit der Frage, ob Purim Scheni als vollwertiger, für die Gemeindemitglieder verbindlicher Feiertag anzusehen sei, und ob ehemalige Mitglieder auch nach dem Verlassen der Gemeinde diese einhalten müssten. Rabbiner Mosche Schreiber (1762–1839), der Chatam Sofer, stammte aus Frankfurt am Main und feierte auch nach seiner Ernennung zum Oberrabbiner von Pressburg (heute Bratislava) weiter »Purim Frankfurt«.

Die Bräuche an diesen Tagen ähneln dem ursprünglichen Purim. So wird das Tachanun (Bußgebet) im Gebet weggelassen, und es wird ein festliches Mahl gehalten, das nach Meinung vieler den Status einer Seudat Mizwa, also einer obligatorischen Festtagsmahlzeit, hat. In manchen Orten ist es sogar Brauch, die Geschichte von Bedrohung und Rettung aus einer eigens geschriebenen Megilla vorzulesen.

Auch eine Megilla gibt es, nur der Böse heißt eben nicht Haman.

Purim Scheni ist jedoch nicht nur auf Gemeinden beschränkt, sondern besteht auch als Familientradition. Eine Reihe von Gelehrten hat ihre Nachkommen angewiesen, den Tag, an dem sie aus einer Gefahr gerettet wurden, als Feiertag zu begehen. So schreibt Rabbi Jom Tov Heller (1579–1654), der Verfasser des umfangreichen Mischna-Kommentars Tosafot Jom Tov, in seiner Autobiografie Megilat Eiva, dass der 1. Adar, an dem er vor dem Tod gerettet wurde, von seinen Nachkommen mit einem Festmahl gefeiert werden soll.

Die Feier des Tages, an dem einer Gemeinde oder Familie eine außergewöhnliche Rettung widerfahren ist, dient einigen Rabbinern als halachische Grundlage für die Feier des Jom Haazmaut, dem israelischen Unabhängigkeitstag. So schrieb der weit anerkannte Rabbi Meschullam Roth, dass der Tag, an dem nach fast 2000 Jahren Exil die Gründung eines jüdischen Staates verkündet wurde und damit ein Zufluchtsort für Millionen von Juden entstand, definitiv als halachischer Feiertag zu betrachten sei.

Wie wir gesehen haben, ist der Brauch, Purim Scheni zu feiern, fest in der jüdischen Tradition verankert.

Angesichts der schwierigen Situation in Israel hoffen auf und beten Juden auf der ganzen Welt für ein Wunder. Wer weiß, vielleicht gibt es bald ein »Purim Gaza«!

Der Autor ist Assistenz-Rabbiner der Gemeinde Kahal Adass Jisroel und Dozent am Rabbinerseminar zu Berlin.

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