Schabbat

Erkenne dich selbst!

Blick in den Spiegel: Wer bin ich wirklich? Foto: Thinkstock

Schabbat

Erkenne dich selbst!

Die Kohanim zeigen uns, wie wichtig es ist, zu den eigenen Schwächen und Stärken zu stehen

von Rabbiner Zsolt Balla  23.03.2015 18:09 Uhr

Am Anfang des Wochenabschnitts Zaw lesen wir von Terumat ha-Deschen, dem Entfernen der Asche des verbrannten Opferfleisches vom Altar des Tempels. Dies war die erste Handlung des Tages, sie fand jeden Morgen vor Sonnenaufgang statt und war eine Vorbereitung für den weiteren Tempeldienst. Ein Kohen (Priester) ging hinauf zum Altar, nahm eine Schaufel voll Asche, kam hinunter und schüttete die Asche am dafür bestimmten Platz auf den Boden des Tempelhofs, östlich der Rampe des Altars, wo die Asche auf wundersame Weise vom Boden verschwand.

Im Talmud (Joma 22a) heißt es, dass ursprünglich jeder Priester diese erste Tätigkeit des Tages verrichten durfte. Wer also zuerst kam, tat es. Im Gegensatz zu den anderen Tätigkeiten des Tempeldienstes wurde der Ausführende nicht durch das Los bestimmt. Waren aber mehrere Kohanim an der Aufgabe interessiert, so wetteiferten sie, indem sie zum Altar hinaufrannten. Diese Praxis wurde jedoch nach einem Unfall, als ein Priester von einem anderen die Rampe hinuntergestoßen wurde und sich dabei die Beine brach, aufgegeben. Seitdem wurde ausgelost, wer die Aufgabe übernimmt.

Der Talmud fragt, warum nicht von Anfang an das Los entschied. Offenbar dachte man, dass die Priester einer Tätigkeit so lange vor Sonnenaufgang keine besondere Bedeutung beimessen würden. Allerdings zeigten die Kohanim durch ihr Verhalten, dass sie offensichtlich anders darüber dachten. Sie waren begeistert und voller Tatendrang.

Tatendrang Der Talmud berichtet an vielen Stellen, dass der Tatendrang eine typische Charaktereigenschaft der Kohanim gewesen ist. Ein Beispiel sind die Schaubrote, die im Tempel auf dem Tisch lagen. Dieses Brot war Mazza, gänzlich ungesäuert, aber es war dennoch anders als die Mazza, die wir heute an Pessach essen.

Die Mazza, die die Kohanim backten, war nicht dünn und trocken. Sie war einen Tefach dick, das sind etwa neun Zentimeter, also viel dicker als eine Scheibe Brot. (In Klammern möchte ich hinzufügen, dass wir Juden, wann immer über Schewarma oder Döner gesprochen wird, sehr stolz sein sollten, denn wir können die ersten in der Weltgeschichte vorweisen: Sie wurden am Sederabend gegessen und bestanden aus einem großen Mazza-Fladen, der zusammengerollt und mit gebratenem Fleisch vom Pessachopfer und bitterem Gemüse gefüllt war. Schewarma und Döner sind also ganz sicher jüdische Erfindungen.)

Wenn die Mazza früher so viel dicker war, warum backen wir sie dann heute nicht mehr so? Der Talmud (Traktat Pessachim) sagt, dass solche Mazzot nur die Kohanim herstellen können, die sich mit den Vorschriften des Mazza-Backens genau auskannten. Wir würden nicht aufmerksam genug sein und Teile des Teigs aufgehen lassen. Dann würde alles zu Chametz werden, und das ist an Pessach verboten.

Gewand In der Tora (3. Buch Mose 6,3) steht geschrieben: »Der Priester soll ein passendes Gewand aus Leinen anziehen und sein Fleisch mit Beinkleidern aus Leinen bedecken; er soll die Fett-Asche entfernen, die entsteht, wenn das Feuer das Brandopfer auf dem Altar verzehrt, und er soll sie neben den Altar schütten.«

Raschi (1040–1105) meint in seinem Kommentar, dass hier mit einem »passenden Gewand« eine Kutonet gemeint ist, ein langer Kittel, den die Priester zu tragen pflegten. Warum steht in der Tora nicht einfach, dass der Priester eine Kutonet tragen muss? Warum wird es als »passendes Gewand« bezeichnet? Raschi antwortet, dass »passend« hier bedeutet, das Gewand müsse für den einzelnen Kohen maßgeschneidert werden – nicht zu groß und nicht zu klein, es muss dem Träger perfekt passen.

Rabbiner David Feinstein aus New York führt diesen Gedanken weiter aus: Der Priester muss ein Gewand in seiner Größe tragen. Dafür muss er seine Maße genau kennen. Im Hebräischen bedeutet das Wort »Midda« sowohl »Maß« als auch »Charaktereigenschaft«. Er muss sich seiner selbst also bewusst sein: Er muss wissen, wer er ist, muss seine Stärken und Schwächen kennen; er soll nicht zu bescheiden von sich denken, aber auch nicht hochmütig sein. Er muss lernen, sich selbst sachlich und unvoreingenommen zu sehen.
Botschaft Was wir von den Kohanim lernen können, ist eine einfache und dennoch fundamentale Botschaft: Auch auf die scheinbar unbedeutendste Aufgabe muss man sich gründlich vorbereiten, mit Begeisterung und – im wahrsten Sinne des Wortes – mit Selbstbewusstsein.

Beim Propheten Jirmejahu 9, 22–23 heißt es: »So hat der Ewige gesprochen: Ein Weiser rühme sich nicht seiner Weisheit; einer, der stark ist, rühme sich nicht seiner Stärke; ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums. Wer sich aber rühmt, der rühme sich, dass er Einsicht hat und mich erkennt, dass Ich, der Ewige, es bin, der Barmherzigkeit, Recht und Wohltätigkeit übt. Denn daran habe ich Gefallen, spricht der Ewige.«

Die Idee in diesen beiden Versen spiegelt sich auch in folgendem Konzept in Pirkej Awot, den Sprüchen der Väter (1,2), wider: »Drei Dinge sind es, auf denen die Welt steht: auf Tora, G’ttesdienst und den Werken der Nächstenliebe.« Was immer wir auch tun – sei es beim Lernen, beim Gebet oder bei guten Taten für andere Menschen –, wir müssen uns unserer eigenen Größe und der entsprechenden Taten bewusst sein.

Dies sollten wir uns ganz besonders jetzt, eine Woche vor dem Pessach-Seder, zu Herzen nehmen. Wir alle waren schon bei Pessach-Sedarim, an denen auch Menschen mit einer Husch-Husch-Einstellung teilgenommen haben, die einfach nur oberflächlich durch das Programm hetzen. Oder schlimmer, Menschen, die andere eigentlich an ihren interessanten Gedanken teilhaben lassen könnten, ihre Ideen aber zurückhalten und es damit unterlassen, die Heiligkeit dieser Nacht zu erhöhen. Und es gibt auch jene, die zum Seder kommen, um sich zu unterhalten, aber andere nicht zu Wort kommen lassen.

Der biblische Vers »We-lawasch ha-Kohen Mido Vad« – »Der Priester soll ein maßgeschneidertes Gewand aus Leinen anziehen«, sagt uns: Erkenne dich selbst: Kenne deine eigene Größe und kenne deinen Platz! Lass andere teilhaben und gib ihnen die Möglichkeit zu teilen, mit Ausgewogenheit und Einfühlungsvermögen!

Der Autor ist Rabbiner der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig.

Inhalt
Im Wochenabschnitt Zaw werden die fünf Arten von Opfern, die die vorige Parascha eingeführt hat, näher erläutert. Diese sind das Brand-, das Friedens-, das Sünden- und das Schuldopfer sowie verschiedene Arten von Speiseopfern. Dem folgen die Schilderungen, wie das Stiftszelt eröffnet und Aharon mit seinen Söhnen ins Priesteramt eingeführt wird.
3. Buch Mose 6,1 – 8,36

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