Kaschrut

Erhitzt auf 74 Grad

Kein anderes Lebensmittel unterliegt bei der Herstellung so strengen Koscher-Regeln wie Wein. »Es gibt ein Problem von der Herstellung des Weins bis zum Öffnen der Flasche«, sagt Tuvia Hod-Hochwald, Kaschrut-Experte der Orthodoxen Rabbinerkonferenz (ORD).

Vor Jahren hatte der Rabbiner in Zusammenarbeit mit dem Winzer Herbert Schenkel in Schwabenheim (Bezirk Mainz-Bingen) koscheren Wein produziert – Dornfelder und Rivaner unter dem Label »Nagila«. Doch nach einer Saison zog sich Hod-Hochwald zurück. »Es war ›Avodat Parech‹« (»Sklavenarbeit wie in Ägypten«), sagt der Israeli knapp. Denn koscherer Wein darf laut Halacha nur von Juden hergestellt werden (laut Hod-Hochwald übrigens auch von Frauen).

»Ich sagte dem Winzer: ›Sie stehen draußen, Sie haben keinen Zugang zu dem Weinkeller‹«, erinnert er sich an seine Weinproduktion. Für den Rabbi und sein kleines Team aus Maschgichim und Experten bedeutete das: »Wir haben die ganze Arbeit alleine gemacht, die Maschinen bedient, und danach musste ich ein halbes Jahr ständig zum Weingut fahren und den Weinhahn auf- und zudrehen. Wer hat dafür Kraft? Ich habe beschlossen, keinen Wein mehr herzustellen. Das ist mir zu anstrengend.«

Trankopfer Doch warum sind die Regeln für die koschere Weinherstellung so extrem streng? In der Tora findet sich im Wochenabschnitt Haasinu ein Hinweis darauf: »Wo sind ihre Götter, die das Fett ihrer Schlachtopfer essen sollten und trinken den Wein ihrer Trankopfer (›jain nesicham‹)?« heißt es dort im 5. Buch Mose 32, 28. Weil sowohl Juden als auch Nichtjuden Wein für religiöse Zwecke verwendeten – das Trankopfer war auch Teil des Jerusalemer Tempelkults –, verlangte die Tora von den Israeliten, sich von Götzenverehrung zu distanzieren und Wein zu meiden, der zu diesem Zweck hergestellt wurde.

Später wurden die Vorschriften noch strikter: »Im Talmud steht, dass auch ›stam jejnan‹ verboten ist«, sagt Rabbiner Shalom Aronzon, Maschgiach der israelischen Golan Heights Winery in Katzrin. Mit »stam jejnan« ist jeglicher Wein gemeint, der von Nichtjuden erzeugt wurde. »Der erste Grund ist, dass man bei der Produktion an Götzenanbetung gedacht haben könnte, der zweite Grund ist Angst vor Assimilation«, so Aronzon.

Offenbar ging es auch um die Furcht vor gemischten Ehen: »Die Weisen haben über ihren Wein wegen ihrer Töchter entschieden«, heißt es im Traktat Avoda Sara 36b.

Im Mittelalter wurde die Halacha weiter verschärft: Der Schulchan Aruch verbietet den Genuss von Wein, der von Juden hergestellt wurde, die den Schabbat missachten (»mechalelei Schabbat be-Farhesija«).

SChlüssel
Was dazu führt, dass auch der jüdische Israeli Victor Schoenfeld, Leiter des Winzer-Teams der Golan-Weinkeller, starken Einschränkungen unterliegt – wie die vier anderen Winzer ist er nicht religiös. »Sie dürfen die Produktionsstätten nur betreten, wenn die religiösen Mitarbeiter anwesend sind«, erklärt Aronzon.

»Sie dürfen nichts anfassen, sie haben keinen Schlüssel zum Weinkeller. Aber ins Labor bekommen sie die ganze Zeit Weinproben geliefert, sie machen Analysen und treffen Entscheidungen. Wir haben auch einen ›Versuchsweinberg‹, dort werden 1500 bis 2000 Liter Probewein pro Jahr erzeugt, der nicht unbedingt koscher sein muss.«

Goldmedaille Doch der Golan-Wein, der aus Israel auf den Weltmarkt kommt, ist »kasher le-mehadrin« und wird seit Jahren mit internationalen Auszeichnungen bedacht: Zuletzt erhielt der Yarden Chardonnay 2012 bei der Frühjahrsverkostung der Mundus Vini 2014 in Deutschland die Große Goldmedaille.

Wäre eine Kiste mit diesem Wein allerdings bei der Jüdischen Gemeinde in Bad Kissingen gelandet, wo die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden ein Kurhotel unterhält, hätte Tuvia Hod-Hochwald sie wohl postwendend zurückschicken lassen – so wie er es nach eigenem Bekunden unlängst mit einer anderen Weinkiste getan hat.

Denn die Golan Heights Winery stellt keine koscheren Weine her, die in die Kategorie »mevuschal« (»gekocht«) fallen. Doch nur derart etikettierte Flaschen dürfen von Nichtjuden geöffnet und von nichtjüdischen Kellnern eingeschenkt werden, ohne dass der Wein dadurch treif wird. Die Regelung geht auf den Schulchan Aruch, Joreh Deah 123,3 zurück.

pasteurisierung »Mevuschal« bedeutet, dass der Wein kurzfristig auf 90 Grad erhitzt wird. Heute benutzen die meisten koscheren Weinhersteller ein schonenderes Verfahren der Pasteurisierung und erhitzen den Wein nur wenige Sekunden lang auf etwa 71,5 bis 74 Grad. »Das Ziel ist es, koscheren Wein zu erzeugen, der die nichtkoschere Version perfekt imitiert«, schreibt Nick Stephens, Gründer des Weinimporthandels »Bordeaux undiscovered« in England, auf seinem Blog.

Shalom Aronzon ist sich bewusst, dass die Golan-Weinkeller auf ein bestimmtes Marktsegment verzichten, weil sie keine »mevuschal«-Weine herstellen. »Heute unternimmt man große Anstrengungen, um den Schaden maximal zu begrenzen, den das Kochen dem Wein zufügt«, sagt er. Zum Beispiel werde versucht, Aromen in der Luft nach dem Erhitzen des Weins wieder »einzufangen«. Funktioniert das? »Es gibt sicherlich Erfolge, aber Experten merken den Unterschied«, ist Aronzons Urteil.

Als gäbe es nicht schon genügend Vorschriften, darf koscherer Wein auch keine Früchte der Orla, der ersten drei Jahre des Baumes, und des Schmitta-Jahres (Schabbatjahr) enthalten.

Und schließlich stellt sich einem praktizierenden Juden die wichtige Frage: Mit wem genieße ich die unter so großem Aufwand erzeugte, meist nicht gerade billige Flasche?

Gäste »Sogar im Talmud gibt es Geschichten über unsere Weisen, die Wein mit Nichtjuden getrunken und sie bei sich bewirtet haben. Es ist nicht verboten, Wein zusammen mit Nichtjuden zu trinken«, betont Shalom Aronzon. Wichtig sei aber, dass der Nichtjude die Flasche nicht berühre, man müsse den Wein also selbst eingießen. »Das kann natürlich ein bisschen peinlich sein – und vielleicht war das auch die Absicht unserer Weisen, auf Distanz zu achten und der Assimilation vorzubeugen.«

Aber darf ein praktizierender Jude auch Wein aus einer Flasche genießen, die ein nichtreligiöser Jude geöffnet hat? An dieser Frage scheiden sich die Geister, sagt Tuvia Hod-Hochwald: »Es gibt Menschen, die den Schabbat nicht halten und trotzdem in die Synagoge gehen. Manche fahren mit dem Auto zur Synagoge, aber beten, wie es sich gehört, und werden zur Tora aufgerufen.«

Massstäbe Auch für viele Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, die nicht religiös erzogen wurden, lässt Hod-Hochwald mildere Maßstäbe gelten: »Ich persönlich sehe diese Menschen nicht als ›Mechalelei Schabbat‹ an, mit denen ich keinen Wein trinken würde, den sie geöffnet haben. Aber wenn jemand offensiv den Schabbat und das Judentum ablehnt, ist das natürlich eine andere Sache.«

Wajeze

»Hüte dich, darüber zu sprechen«

Die Tora lehrt, dass man ein Gericht anerkennen muss und nach dem Urteil nicht diskutieren sollte

von Chajm Guski  06.12.2024

Talmudisches

Die Tora als Elixier

Birgt die Tora Fallen, damit sich erweisen kann, wer zur wahren Interpretation würdig ist?

von Vyacheslav Dobrovych  06.12.2024

Hildesheimer Vortrag 2024

Für gemeinsame Werte einstehen

Der Präsident der Yeshiva University, Ari Berman, betonte die gemeinsamen Werte der jüdischen und nichtjüdischen Gemeinschaft

von Detlef David Kauschke  05.12.2024

Naturgewalt

Aus heiterem Himmel

Schon in der biblischen Tradition ist Regen Segen und Zerstörung zugleich – das wirkt angesichts der Bilder aus Spanien dramatisch aktuell

von Sophie Bigot Goldblum  05.12.2024

Deutschland

Die Kluft überbrücken

Der 7. Oktober hat den jüdisch-muslimischen Dialog deutlich zurückgeworfen. Wie kann eine Wiederannäherung gelingen? Vorschläge von Rabbiner Jehoschua Ahrens

von Rabbiner Jehoschua Ahrens  05.12.2024

Chabad

Gruppenfoto mit 6500 Rabbinern

Tausende Rabbiner haben sich in New York zu ihrer alljährlichen Konferenz getroffen. Einer von ihnen aber fehlte

 02.12.2024

Toldot

Jäger und Kämpfer

Warum Jizchak seinen Sohn Esaw und nicht dessen Bruder Jakow segnen wollte

von Rabbiner Bryan Weisz  29.11.2024

Talmudisches

Elf Richtlinien

Wie unsere Weisen Psalm 15 auslegten

von Yizhak Ahren  29.11.2024

Ethik

»Freue dich nicht, wenn dein Feind fällt«

Manche Israelis feiern auf den Straßen, wenn Terroristenführer getötet werden. Doch es gibt rabbinische Auslegungen, die jene Freude über den Tod von Feinden kritisch sehen

von Rabbiner Dovid Gernetz  29.11.2024