Als eindrucksvolles Naturereignis wurde das Gewitter vielfach als eine Art göttliche Bewegung aufgefasst und war stets von mythenbildender Kraft. In der Religionsgeschichte gibt es zahlreiche Gottheiten des Gewitters, deren Waffen Blitz und Donner sind. In Volkssagen wird das Gewitter häufig als Kampf zwischen mythischen Wesen, Dämonen, Riesen und Zwergen gedeutet.
In antiken Mythen sind es stets die mächtigsten Götter, die über das Wetter herrschen: Baal, Zeus, Thor. Obwohl ihr Glanz längst erloschen ist, leben sie in unserer Sprache weiter. So leitet sich der Donnerstag vom lateinischen Wochentag »dies jovis« (Tag des Jupiter/Zeus) ab. Er wurde germanisiert und mit dem Gott Thor verbunden, der wie Zeus Blitze schleudert und das Gewitter beherrscht. Im Englischen ist dieser Prozess noch deutlicher: Dort steckt der germanische Gott noch im Namen »Thursday«.
Geschichte von der Sintflut und Atrahasis-Mythos
Die bekannteste biblische Geschichte, in der Gewitter eine zentrale Rolle spielen, ist die Geschichte von der Sintflut. Älter als diese Erzählung ist der Atrahasis-Mythos. Darin wird berichtet, dass die Menschen den Göttern zunächst dienstbar sind. Sie füttern die Götter mit ihren Opfergaben.
Der rationale Schöpfergott in der Tora machte die Wissenschaft möglich.
Doch dann fallen sie in Ungnade, und die Götter schicken eine Sturmflut, um die Menschheit auszulöschen – mit Ausnahme ihres Lieblings Atrahasis. Der erhält die Anweisung, eine Arche zu bauen, und überlebt als Einziger den Untergang. Nach der Flut bereuen die Götter ihre Entscheidung, da ihnen bewusst wird, dass es nun niemanden mehr geben würde, der sie versorgt.
Eine Parallele zur biblischen Geschichte um Noach und die Sintflut ist unverkennbar, jedoch gibt es einen wesentlichen Unterschied: Laut der Tora ist der Grund für die Vernichtung der Menschheit ihre moralische Verderbtheit und ihr böses Verhalten, im Atrahasis-Mythos hingegen ist es der Lärm der Menschen, der die göttliche Ruhe stört und ihren Zorn entfacht.
In antiken Mythen spielen Gewitter und die damit einhergehenden Naturkatastrophen eine wesentliche Rolle. So erzählt die griechische Mythologie von den Götterschlachten gegen die Titanen im Prozess der Schöpfung und Neuordnung des Universums. Dieser Prozess wurde als Ablösung eines von Naturmächten geprägten Zustandes durch eine geregelte Weltordnung gedeutet.
Kampf der Götter und ihrer Rivalen
Auch hier unterscheidet sich die Bibel radikal von anderen Mythologien. Anders als bei allen kosmologischen Mythen der Antike gibt es hier keinen Kampf der Götter und ihrer Rivalen, keine kosmischen Schlachten. Es gibt überhaupt keinen Mythos. Gott spricht, und das Universum entsteht. Das Universum wurde seiner geheimnisvollen Hülle beraubt. Es wurde, wie Max Weber es formulierte, »entzaubert«.
Die Tora markiert den Anfang des Endes der mythischen Vorstellungskraft. Sie machte die Wissenschaft möglich. Das Universum wurde nicht mehr als unvorhersehbar und willkürlich betrachtet. Es war das Werk eines einzigen, rationalen Schöpferwillens. Im Gegensatz zu den Göttern der Mythen war dieser nicht gleichgültig oder feindselig gegenüber den Menschen. Im biblischen Buch Bereschit wird von einem Gott gesprochen, der die Menschheit mit seinem Ebenbild ausgestattet hat.
In der Bibel wurden Stürme und Gewitter deshalb nicht als Kampf zwischen himmlischen Wesen aufgefasst, sondern als das, was sie sind: Stürme und Gewitter. Manchmal versuchten die Autoren jedoch, in ihrem Auftreten einen Sinn zu finden und ihn auf einen göttlichen Willen zurückzuführen. Unter anderem werden Stürme als Strafe für Übeltäter betrachtet: »So verfolge sie mit Deinem Wetter, und mit Deinem Sturmwind schrecke sie« (Tehillim 83,16).
Oder: »Wie ein Hagelwetter, wie ein verheerender Sturmwind, wie ein Unwetter gewaltiger, überflutender Wasser reißt er zu Boden mit Macht« (Jeschajahu 28,2). In den meisten Passagen werden Gewitter hingegen als unveränderliche Naturphänomene hingenommen, ohne dass eine theologische Erklärung erfolgt, was der »Entzauberung der Welt« entspricht.
»Die Donner sind dazu geschaffen worden, die Verstocktheit des Herzens zu entfernen.«
Talmud Berachot 59a
Im Talmud haben unsere Weisen angeordnet, Segenssprüche über Donner und Blitz zu sprechen. Ein Donner kann überraschend und laut sein. Deshalb heißt es im Talmud: »Die Donner sind nur dazu geschaffen worden, um die Verstocktheit des Herzens zu entfernen« (Berachot 59a). Wir sollen nicht gedankenlos durch die Welt ziehen. Die gesamte sinnliche Welt dient Gott zur Verherrlichung. Beim Hören des Donners sagen wir: »Gesegnet seist Du, Gott unser Gott, König der Welt, dessen Kraft und Allmacht die Welt erfüllt.« Beim Sehen des Blitzes sagen wir: »Gesegnet seist Du, Gott unser Gott, König der Welt, der das Werk des Anfangs geschaffen hat.«
»Werk des Anfangs«
Die Wortwahl in diesem letzten Segensspruch ist interessant. Beim »Werk des Anfangs« könnten einem all die Mythen in den Sinn kommen, die die Tora bei der Schöpfung zu vermeiden versucht hat. Haben die Rabbiner hier eine Hintertür für Gnostiker und andere Sektierer geschaffen? Das ist eher unwahrscheinlich, denn der Blitz ist nur ein Naturereignis, für das dieser Segensspruch gesprochen werden soll.
Er wird aber auch bei Erdbeben, Stürmen, beim Anblick von Kometen, großen Flüssen und Sternschnuppen gesprochen. Unsere Weisen wollten eher sagen, dass Gott die Naturgesetze von Beginn der Schöpfung an unabänderlich erschaffen hat und sie seitdem ihren natürlichen Lauf nehmen. So erklärt es auch der Rambam. Seiner Meinung nach kann ein Mensch die Mizwa, Gott zu lieben, erfüllen, wenn er die Natur beobachtet und in den Naturgesetzen die unendliche Weisheit Gottes erkennt. Das ist jedoch nur möglich, wenn wir Naturereignisse von Mythen trennen und die Welt »entzaubern«.
Der Autor ist Rabbiner und unterrichtet an einer Schule in Berlin.