Selbstkritik

Einsicht und Reue

Hat Fehler gemacht, sie aber eingestanden: König David, wie er Bathseba beim Baden beobachtet (Gravur, Frankreich 1881). Foto: dpa

Selbstkritik

Einsicht und Reue

Ein guter Anführer gibt seine Fehler zu und bittet um Entschuldigung

von Rabbiner Avraham Radbil  16.03.2015 16:43 Uhr

Im Wochenabschnitt Wajikra werden die Sühneopfer verschiedener Personengruppen beschrieben. Wir lesen da zum Beispiel: »falls der gesalbte Priester sündigt« (3. Buch Mose 4,3), oder: »falls die ganze Gemeinschaft Israels sündigt« (4,13), oder: »falls eine Person aus dem Volk sündigt« (4,27). Interessanterweise steht bei Herrschern und Anführern nicht »falls« (hebräisch »im«), sondern »jedes Mal, wenn« (hebräisch »ascher«): »jedes Mal, wenn ein Herrscher/Anführer sündigt« (4,22).

Der Sforno, Rabbiner Owadja ben Jakow Sforno (1475–1550), erklärt diese Diskrepanz folgendermaßen: Er sagt, dass es bei allen Personengruppen nicht sicher ist, ob sie sündigen werden oder nicht. Aber bei einem Herrscher – zieht man die Komplexität, den Umfang seines Entscheidungsfelds und den Druck, der auf seinen Schultern lastet, in Betracht – kann man mit fast hundertprozentiger Sicherheit davon ausgehen, dass ihm Fehler unterlaufen. Deshalb sagt die Tora über einen Herrscher: »wenn er sündigt«.

Glück Raschi (1040–1105) zitiert in seinem Torakommentar einen Midrasch und erklärt, das Wort »ascher« könnte auch von dem Wort »aschrej« (glücklich) abstammen. Dann hieße unser Vers: »Glücklich ist die Generation, deren Herrscher seine Sünden anerkennt und sie entsühnen möchte«.

Es geht hier um einen unangefochtenen Herrscher, dem keiner etwas anhängen kann und den niemand infrage stellt. Keiner außer ihm kennt den Fehler. Wenn er ihn nicht selbst anspricht, wird er vielleicht nie jemandem auffallen. Jedoch ist der Herrscher ehrlich genug, um seine Verfehlung einzugestehen, zu offenbaren und um Vergebung zu bitten. Ein Volk, das von einem solchen Mann geführt wird, kann sich glücklich schätzen.

Die Tora ist realistisch. Sie sagt, dass selbst dem besten Anführer der Welt Fehler unterlaufen. Ein guter Herrscher ist nicht derjenige, der sie vertuscht, sondern einer, der zu ihnen steht und um Entschuldigung bittet.

Dieser Gedanke hat nicht an Aktualität verloren. Wie oft werden in Regierungskreisen Korruption oder »finanzielle Unregelmäßigkeiten« aufgedeckt? Und wie wenige Anführer gestehen ihre Fehler ein und bitten ihr Volk um Verzeihung? Stattdessen suchen die meisten nach Ausreden und denken vor allem daran, ihre eigene Haut zu retten.

GEschichte Man erzählt sich eine Geschichte über den Steipler, Rabbiner Jakow Jisroel Kanjewski (1899–1985). Er war eine anerkannte rabbinische Führungspersönlichkeit der letzten Generation und lebte in Bnei Brak. Alle Familien dort luden den wichtigen Rabbiner zu ihren Barmizwa-Feiern ein, um den Jungen eine besondere Ehre zu erweisen. Raw Kanjewski versuchte – so oft es ging – diese Einladungen anzunehmen. Doch mit zunehmendem Alter fiel es ihm immer schwerer, sodass er eines Tages verkündete, er werde zu keiner Barmizwa-Feier mehr gehen. Er wolle niemanden bevorzugen oder benachteiligen.

Kurz darauf sah man ihn dann doch bei einer Barmizwa, und alle wunderten sich darüber, denn der Junge war weder ein Schüler des Rabbis noch sein Verwandter. Er war auch nicht für seine besondere Frömmigkeit oder sein Wissen bekannt. Es war ein ganz gewöhnlicher Junge, der seine Barmizwa feierte.

Die erstaunten Gäste beobachteten, wie der Rabbiner sich nach der Feier zu dem Jungen hinabbeugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Der Junge errötete und wirkte etwas verwirrt. Er verstand offenbar nicht, worum es ging, und erwiderte nur: »Es ist in Ordnung, es ist nichts passiert«.

Einige Zeit später erfuhren alle, was hinter der Geschichte steckte und warum der Steipler ausgerechnet diesen Jungen mit seinem Besuch gewürdigt hatte: Sechs Jahre zuvor, als der Junge sieben Jahre alt war, hatte er in der Synagoge von Rabbiner Kanjewski Mincha gebetet. Er betete aus einem sehr großen Siddur. Als der Steipler das sah, glaubte er, der Junge schaue sich irgendein Buch an, anstatt zu beten, denn nur selten ist ein Siddur derart groß.

Rabbiner Kanjewski ging zu dem Jungen und tadelte ihn: Während des Gebets werde in seiner Synagoge gebetet und nicht gelesen, sagte er. Daraufhin zeigte ihm der Junge, dass er kein Buch, sondern einen Siddur in den Händen hielt und daraus betete. Raw Kanjewski bat sofort um Entschuldigung, und der Junge nahm sie selbstverständlich an.

Doch der Rabbi befürchtete, dass ein Minderjähriger aus halachischer Sicht noch nicht alt genug ist, um eine Entschuldigung anzunehmen. Aus diesem Grund erkundigte sich Raw Kanjewski, wer dieser Junge sei, und wartete bis zum Tag seiner Barmizwa, um den volljährig Gewordenen für die falsche Anschuldigung vor sechs Jahren um Vergebung zu bitten.

Vorbild So handelt eine wahre Führungspersönlichkeit. »Glücklich ist die Generation, deren Anführer seine Sünden zugibt und sie sühnen möchte«, lesen wir in der Tora. Glücklich ist das jüdische Volk, das von Menschen wie Mosche Rabbeijnu, König Schaul, König David und anderen geführt wurde. Sie alle haben trotz ihrer unbeschreiblichen Größe Fehler gemacht, aber sie versteckten sie nicht, sondern gestanden sie, bereuten sie und baten um Vergebung. Sie sind wahre Vorbilder für jeden Anführer.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Osnabrück.

Der Wochenabschnitt Wajikra steht am Anfang des gleichnamigen dritten Buches der Tora und enthält Anweisungen dazu, wie, wo und von welchen Tieren die verschiedenen Opfer dargebracht werden müssen. Es werden fünf Arten unterschieden: das Brand-, das Schuld-, das Friedens- und das Sündenopfer sowie verschiedene Arten von Speiseopfern.
3. Buch Mose 1,1 – 5,26

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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