Wajechi

Einheit in Vielfalt

Die zwölf Stämme Israels stehen mit ihren 13 Elementen dafür, dass das Volk ein Ganzes ist

von Vyacheslav Dobrovych  21.12.2018 08:49 Uhr

Zwölf Stämme: Jeder ist anders, aber alle sind aus einem Holz. Foto: Getty Images/iStockphoto

Die zwölf Stämme Israels stehen mit ihren 13 Elementen dafür, dass das Volk ein Ganzes ist

von Vyacheslav Dobrovych  21.12.2018 08:49 Uhr

Im Wochenabschnitt Wajechi segnet Jakow unmittelbar vor seinem Tod die zwölf Stämme Israels. Allerdings sind es 13 Stämme oder, besser gesagt, zwölf Stämme mit 13 Elementen, denn aus dem Stammvater Josef gingen die beiden eigenständigen Stämme Efrajim und Menasche hervor.

Wie in allen anderen biblischen Geschichten lässt sich auch hier eine tiefe Symbolik erkennen. Die Zahl zwölf steht für Unterschiedlichkeit. Beispiele dafür sind die zwölf Monate des Jahres mit ihrem unterschiedlichen Wetter oder die zwölf Sternzeichen mit den unterschiedlichen Eigenschaften, die ihnen zugeschrieben werden.

Die zwölf Stämme sollen in ihrer Unterschiedlichkeit eine Einheit symbolisieren.

Die 13 hingegen steht für Einheit. Sowohl das Wort Echad (eins) als auch das Wort Ahava (Liebe) haben den Zahlenwert 13. Die zwölf Stämme mit ihren 13 Elementen sollen also in ihrer Unterschiedlichkeit eine Einheit symbolisieren. In der jüdischen Geschichte war diese angestrebte Einheit leider oft nur theoretischer Natur.

Kulturkämpfe Schon seit der Entstehung des Judentums prägen zahlreiche Kulturkämpfe die Geschichte des Volkes Israel. Nach dem Auszug aus Ägyptens Sklaverei standen Mosche und seine Anhänger der Gruppe derer gegenüber, die gegen Mosche rebellierten und am liebsten nach Ägypten zurückgekehrt wären.

Später sehen wir die Aufteilung in das Nordreich Israel und das Südreich Jehuda. Während das Südreich dem G’tt Israels treu blieb, wandte sich das Nordreich dem Götzendienst zu. Einige Jahrhunderte später können wir den Konflikt zwischen den toratreuen Makkabäern und den Hellenisten beobachten.

Es sind allerdings die Makkabäer und nicht die Hellenisten, die beim alljährlichen Chanukkafest als Helden gefeiert werden. Es sind die Nachkommen des Südreiches Jehuda, die die Geschichte des jüdischen Volkes prägten, und nicht die Nachkommen des Nordreiches Israel. Es sind die g’ttesfürchtigen Männer Mosches, die in den wöchentlichen Toralesungen gepriesen werden, und nicht diejenigen, die gegen Mosche rebellierten.

Es scheint, als würde sich die »toratreue Fraktion« als Sieger der jüdischen Geschichte behaupten.

Vielleicht liegt es daran, dass die Geschichte des jüdischen Volkes von denjenigen Juden geschrieben wurde, die sich im Laufe der turbulenten Geschichte nicht assimiliert haben. Die Religion hat dabei geholfen, die jüdische Identität trotz äußerer Einflüsse zu wahren. Und so wurden die Nachkommen der frommen Juden zu Geschichtsschreibern und die fromme Fraktion zum durchgehenden Sieger des innerjüdischen Kulturkampfes.

GESCHICHTSSCHREIBUNG Wem diese rationale Interpretation der Geschichtsschreibung besser gefällt als die Interpretation vom »Sieg der G’ttesfurcht«, muss dennoch anerkennen, dass die Religiosität einen erheblichen Beitrag zum Erhalt des Judentums geleistet hat.

Wieso gibt es in jeder Generation Juden, die die Gebote, nicht mehr halten wollen?

Anfang des 20. Jahrhunderts wirkte Rabbiner Avraham Yitzchak Kook (1865–1935) im Land Israel. Er gilt als Begründer des religiösen Zionismus und als Brückenbauer. Er genoss den Respekt und die Anerkennung verschiedener gesellschaftlicher Gruppen im damaligen britischen Mandatsgebiet.

Rabbiner Kook stellte sich die Frage, warum es im Judentum überhaupt einen Kulturkampf gibt. Wieso gibt es in jeder Generation Juden, die die Mizwot, die Gebote, nicht mehr halten wollen?

Man mag argumentieren, diese Frage sei nicht berechtigt. Die Gebote sind nicht leicht zu halten, andere Lebensformen bieten attraktivere Alternativen, und manche Juden haben einfach keine Lust mehr auf das Judentum. Rav Kooks Frage ließe sich also ganz einfach beantworten.

Der Mystiker Kook konnte eine solche Antwort allerdings nicht akzeptieren. Er sieht das Judentum als integralen Teil der jüdischen Seele, als das, wonach sich alle Juden instinktiv sehnen. In dieser Lehre ist das Argument, dass man einfach keine Lust mehr hat, unannehmbar.

Das Judentum, nach dem sich die jüdische Seele sehnt, ist allerdings ein Ideal, das nicht immer dem realen Judentum entspricht. Die jüdische Seele sucht das im realen Judentum fehlende Element dann in einer fremden Ideologie. Dies ist laut Rav Kook die Quelle des Kulturkampfes.

SOZIALISMUS Ich möchte diese Idee an einem konkreten Beispiel aus der Zeit Rav Kooks erläutern. Anfang des 20. Jahrhunderts verließen viele junge Juden die Talmudschulen, um sich säkularen, sozialistischen Bewegungen anzuschließen.

Nach Kooks Theorie ist dies nur deshalb möglich, weil der Sozialismus einen Funken des idealen Judentums enthält, einen Funken, der dem realen Judentum gerade fehlt.

Dieser Funke könnte zum Beispiel der verstärkte Fokus auf soziale Gerechtigkeit und auf Internationalismus sein. Die Juden werden durch ihre unbewusste Sehnsucht nach dem idealen Judentum aus dem Judentum in den Sozialismus hineingezogen.

So entsteht ein Kulturkampf zwischen den toratreuen Talmudstudenten und den säkularen Sozialisten. Die Juden, die sich vom realen Judentum abgewandt haben, sind in den Augen Rav Kooks jedoch in erster Linie keine Abtrünnigen, sondern Idealisten.

Dieser Konflikt lässt sich erst dann auflösen, wenn das reale Judentum den Fokus auf das in ihm vorhandene vernachlässigte Element verstärkt und den Funken aus der säkularen Ideologie herausholt. In unserem Beispiel würde dies also bedeuten, den Fokus verstärkt auf das Studium talmudischer Aussagen über soziale Gerechtigkeit und Internationalismus zu legen und daraufhin konkrete Handlungsanweisungen zu formulieren.

In der Theorie Kooks wäre dies ein Schritt in Richtung des idealen Judentums, und man würde damit die verlorenen Anhänger zurückgewinnen.

Ich bezweifle, dass sich diese Lehre empirisch klar belegen lässt. Und sicherlich müssen die Motive jedes einzelnen Menschen individuell betrachtet werden. Eine einzige Theorie als Antwort auf ein verbreitetes Phänomen wird der Komplexität nicht gerecht. Dennoch denke ich, dass diese Lehre von Rabbiner Kook tief im Judentum und in einer unangefochtenen universellen Regel verwurzelt ist. Die Regel lautet: Wer Veränderung will, muss sich selbst verändern!

Der Autor studiert Sozialarbeit in Berlin.

INHALT
Der Wochenabschnitt Wajechi erzählt davon, wie Jakow die Enkel Efrajim und Menasche segnet. Seine Söhne versammeln sich um sein Sterbebett, und er wendet sich an jeden mit letzten Segensworten. Jakow stirbt und wird seinem Wunsch entsprechend in der Höhle Machpela in Hebron beigesetzt. Josef verspricht seinen Brüdern, nun für sie zu sorgen. Später dann, bevor auch Josef stirbt, erinnert er seine Brüder daran, dass der Ewige sie in das versprochene Land zurückführen wird.
1. Buch Mose 47,28 – 50,26

 

Anmerkung der Redaktion: Auf der G’ttesdienstseite der aktuellen Printausgabe der Jüdischen Allgemeinen (Seite 12) ist auf dem Foto der Berliner Synagoge Joachimsthaler Straße der Name des Ewigen abgebildet. Die Orthodoxe Rabbinerkonferenz Deutschland weist darauf hin, dass entsprechend der Halacha das Blatt daher nicht einfach weggeworfen werden darf, sondern in einer Geniza entsorgt werden muss.

Chabad

Gruppenfoto mit 6500 Rabbinern

Tausende Rabbiner haben sich in New York zu ihrer alljährlichen Konferenz getroffen. Einer von ihnen aber fehlte

 02.12.2024

Toldot

Jäger und Kämpfer

Warum Jizchak seinen Sohn Esaw und nicht dessen Bruder Jakow segnen wollte

von Rabbiner Bryan Weisz  29.11.2024

Talmudisches

Elf Richtlinien

Wie unsere Weisen Psalm 15 auslegten

von Yizhak Ahren  29.11.2024

Ethik

»Freue dich nicht, wenn dein Feind fällt«

Manche Israelis feiern auf den Straßen, wenn Terroristenführer getötet werden. Doch es gibt rabbinische Auslegungen, die jene Freude über den Tod von Feinden kritisch sehen

von Rabbiner Dovid Gernetz  29.11.2024

Potsdam

In der Tradition des liberalen deutschen Judentums

Die Nathan Peter Levinson Stiftung erinnerte an ihren Namensgeber

 28.11.2024

Kalender

Der unbekannte Feiertag

Oft heißt es, im Monat Cheschwan gebe es keine religiösen Feste – das gilt aber nicht für die äthiopischen Juden. Sie feiern Sigd

von Mascha Malburg  28.11.2024

Berlin

Spendenkampagne für House of One startet

Unter dem Dach des House of One sollen künftig eine Kirche, eine Synagoge und eine Moschee Platz finden

von Bettina Gabbe, Jens Büttner  25.11.2024

Chaje Sara

Handeln für Generationen

Was ein Grundstückskauf und eine Eheanbahnung mit der Bindung zum Heiligen Land zu tun haben

von Rabbiner Joel Berger  22.11.2024

Talmudisches

Elefant

Was unsere Weisen über die Dickhäuter lehrten

von Rabbiner Netanel Olhoeft  22.11.2024