Schelach Lecha

Eine Frage der Perspektive

Es ist entscheidend, von wo aus man schaut. Foto: Getty Images/iStockphoto

In Paraschat Schelach wird berichtet, wie Mosche einen Mann von jedem Stamm auswählte und nach Kanaan schickte, um das Land zu erkunden. Wir erfahren, dass alle Kundschafter, abgesehen von Kalev ben Jefune und Jehoschua bin Nun, nur Schlechtes über das Land zu berichten hatten. Das jüdische Volk fing daraufhin an, grundlos zu weinen, und fragte sich, warum G’tt es in ein solches Land bringen wollte?

Das grundlose Weinen und das schlechte Reden (Laschon Hara) über das Land führte dazu, dass alle Menschen zwischen 20 und 60 Jahren die kommenden 40 Jahre in der Wüste bleiben und dort sterben sollten. Lediglich ihre Kinder würden später mit Jehoschua bin Nun und Kalev ben Jefune in das Land gehen.

KUNDSCHAFTER Auf den ersten Blick mögen wir uns fragen, worin genau der Fehler dieser zehn Männer bestand. Denn wenn wir uns den Text genauer anschauen, erfahren wir, dass die Männer auf Mosches Fragen tatsächlich das geantwortet haben, was sie gesehen hatten.

Im 4. Buch Mose 13, 31–32 lesen wir: »Aber die Männer, die mit ihm (Kalev ben Jefune) hinaufgezogen waren, sprachen: Wir vermögen nicht, gegen das Volk hinaufzuziehen, denn es ist uns zu stark. Sie verbreiteten unter den Kindern Israels Gerüchte über das Land, das sie durchspürt hatten, und sagten: Das Land, das wir durchwanderten, es auszuspüren, ist ein Land, das seine Insassen frisst; alles Volk, das wir darin sahen, sind Leute von Übermaß.«

Raschi (1040–1105) bezieht sich in seinem Kommentar dieser Stelle auf die Erklärung unserer talmudischen Weisen: »Das ist ein Land, das seine Insassen frisst, denn an jedem Ort, an dem wir vorbeikamen, fanden wir sie (die Einwohner) ihre Toten begraben« (Sota 35a).

wahrheit Mit den »Leuten von Übermaß« seien breite und große Menschen gemeint. Die zehn Kundschafter glaubten, das Land verursache, dass die Leute dort sterben. Der Grund: In allen Städten, in die sie kamen, hatten sie viele Beerdigungen beobachtet. Warum war es ein Fehler, dass die Kundschafter anderen von dem, was sie sahen, erzählten? Sie sagten doch die Wahrheit über das, was ihnen dort aufgefallen war.

Die Weisen des Talmuds erklären, dass in jeder Stadt, in die die Kundschafter kamen, eine wichtige Persönlichkeit gestorben war, damit alle Einwohner mit der Beerdigung beschäftigt waren (Sota 35a). Einer Meinung nach sei auch Hiob in diesen Tagen gestorben, und da er eine wichtige Person gewesen ist, waren alle damit beschäftigt, ihn zu begraben.

Das ist es also, was die Männer gesehen haben. Eigentlich war dies genau G’ttes Absicht: Die Bewohner der Städte sollten durch die Beerdigungen abgelenkt werden, damit sie die Kundschafter nicht bemerken.

FEHLER Rabbi Yosef Chaim von Bagdad (1832–1909) zufolge lag der Fehler der zehn Männer darin, dass sie gefolgert hatten, das Land würde den Tod der Menschen verursachen. Ihnen hätte jedoch auffallen müssen, dass nicht einfach wahllos Menschen gestorben waren, sondern in jeder Stadt nur einige wenige wichtige Menschen. Läge es tatsächlich an dem Land, dass Leute sterben, hätte es auch ganz einfache Menschen treffen müssen.

Er würde sogar weitergehen, schreibt Rabbi Yosef Chaim: Wenn es an dem Land gelegen hätte, dass die Menschen sterben, dann hätte dies doch viel eher die einfachen Menschen betreffen müssen, denn sie leben unter schlechteren Bedingungen. Den Kundschaftern hätte auffallen müssen, dass die Tatsache, dass überall wichtige Menschen sterben, ihnen zugutekommen sollte und ein Zeichen der Unterstützung und der Barmherzigkeit G’ttes ihnen gegenüber ist.

Wir sehen also, es handelt sich hier um Ereignisse, die je nach Perspektive ganz unterschiedlich interpretiert werden können. Auch in unserem Leben kommt es häufig vor, dass zwei Menschen eine Situation oder ein Ereignis ganz unterschiedlich interpretieren.

unterschied Es kommt darauf an, aus welcher Perspektive wir auf die Realität blicken. Die meisten kennen den Unterschied zwischen einem halb vollen und einem halb leeren Glas. Im Grunde ist in beiden Fällen die gleiche Menge im Glas. Doch die eine Perspektive ist eine positive, während die andere eine eher negative ist. Wenn wir mit einer positiven Einstellung an etwas herangehen, werden wir immer das halb volle Glas sehen, im anderen Fall erscheint es als halb leer.

Wie uns bekannt ist, hatte König David kein einfaches Leben. Er war von allen Seiten mit Schwierigkeiten und Problemen konfrontiert. Trotzdem sagte er folgende erstaunliche Worte über sich: »G’tt hat mich streng gezüchtigt, aber dem Tod hat er mich nicht übergeben« (Tehilim 118,18). An diesen Worten sehen wir, dass König David seine Schwierigkeiten gesehen, aber die Augen vor der Realität nicht verschlossen hat. Er erkannte: Das größte Geschenk, das der Mensch in diesem Leben hat, ist das Leben. Die Tatsache, dass ihm das Leben geschenkt worden ist, war bedeutender, größer und wichtiger für ihn als alle seine Probleme zusammengenommen.

Wenn wir uns umschauen, werden wir viel Positives entdecken. Denn schließlich ist eines der größten Geschenke, das wir von G’tt bekommen haben, unsere Familie, unsere Kinder und unsere Freunde. Sie sollten wir wertschätzen.

REALITÄT Im Talmud wird eine kleine Geschichte von Rabbi Hiyya erzählt, an der wir sehen können, wie man auch in schwierigen Situationen mit einem positiven Blick auf die Realität schauen kann.
Rabbi Hiyya wurde ständig von seiner Frau geärgert. Fand er jedoch etwas, das ihr gefallen könnte, so wickelte er es in seinen Schal und brachte es ihr. Rav sagte zu ihm: »Ärgert sie dich nicht ständig? Warum bringst du ihr Sachen mit?«

Rabbi Hiyya sah jedoch nur das Positive, denn die Tatsache, dass die Frau ihm Kinder geschenkt hatte und diese erzieht sowie die Männer vor der Sünde rettet, ist so wichtig und so positiv für ihn, dass ihm alles andere dagegen belanglos erschien (Jevamot 63a).
So sollten auch wir immer daran arbeiten, alles aus einer positiven Perspektive zu betrachten und so die Welt ein bisschen besser zu machen.

Der Autor studiert am Rabbinerseminar zu Berlin.

inhalt
Mit G’ttes Erlaubnis sendet Mosche zwölf Männer in das Land Kanaan, um es auszukundschaften. Von jedem Stamm ist einer dabei. Zehn kehren mit einer erschreckenden Schilderung zurück: Man könne das Land niemals erobern, denn es werde von Riesen bewohnt. Lediglich Jehoschua bin Nun und Kalev ben Jefune beschreiben Kanaan positiv und erinnern daran, dass der Ewige den Israeliten helfen werde. Doch das Volk schenkt dem Bericht der Zehn mehr Glauben und ängstigt sich. Darüber wird G’tt zornig und will das Volk an Ort und Stelle auslöschen. Doch Mosche kann erwirken, dass G’ttes Strafe milder ausfällt.
4. Buch Mose 13,1 – 15,41

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