17. Tamus

Eine Frage der Folgen

Fast wie im richtigen Leben: Auch beim Fußball gibt es für Streithähne die Rote Karte. Foto: imago

17. Tamus

Eine Frage der Folgen

Was die Zerstörung des Jerusalemer Tempels mit unseren alltäglichen Streitigkeiten zu tun hat

von Rabbiner Avrohom Yitzchok Radbil  22.06.2010 07:35 Uhr

Am kommenden Dienstag (17. Tamus) beginnen die drei Wochen vor dem 9. Aw, eine Periode, die durch viele Ereignisse der jüdischen Geschichte zur Trauerzeit geworden ist. Insbesondere betrauern wir dabei die Zerstörung der beiden Tempel, was gleichzeitig auch den Verlust des Landes Israel und den Beginn unseres Exils, das schon fast 2.000 Jahre andauert, bedeutet.

Hass Unsere Weisen berichten im Jerusalemer Talmud, dass der Zweite Tempel wegen Sinat Chinam, grundlosem Hass, zerstört worden ist. Nun können wir verstehen, dass der Tempel wegen des gegenseitigen Hasses zerstört wurde. Denn einerseits sollte das Heiligtum durch die Opfergaben die Verbindung zwischen dem Volk und G’tt herstellen. Andererseits sollte es aber auch die Verbindung zwischen Menschen schaffen, so wie an den Festtagen Pessach, Schawuot und Sukkot, an denen das ganze Volk im Tempel zusammenkommen sollte, um Opfer darzubringen. Da sich die Menschen gegenseitig hassten, erfüllte der Tempel seine Funktion nicht mehr und wurde uns aus diesem Grund genommen.

Doch wie kann man grundlosen Hass erklären? Haben Sie schon mal jemanden grundlos nicht gemocht? Es gibt immer einen Grund, warum uns jemand unangenehm ist. Entweder hat er uns etwas Unschönes gesagt, oder sich nicht adäquat benommen. Es kann auch kleinste und unbedeutendste Anlässe geben, wie zum Beispiel: »Er ist mir auf den Fuß getreten!« Es gibt immer einen Grund, jemanden nicht zu mögen. Aber was hingegen bedeutet grundloser Hass?

Parabel Rabbiner Mattityahu Salomon hat diese Frage mit einer Parabel beantwortet. Die Geschichte handelt von einem kleinen Grundschuljungen, der in der Klasse während des Unterrichts ständig mit seinem Bleistift spielte. Alle zwei Minuten fiel sein Bleistift auf den Boden, der Junge hob ihn auf und spielte weiter. Dies störte die Klassenruhe und den gesamten Unterricht, sodass ihn der Lehrer aufforderte, das Spiel mit dem Bleistift zu unterlassen. Doch der Junge hörte nicht auf ihn, und machte weiter. Der Lehrer wiederholte mehrmals seine Bitte, doch war dies erfolglos. Als er daraufhin seine Geduld verlor, nahm er das große Lineal und schlug dem Jungen auf die Finger. Anscheinend hatte er seine Kraft unterschätzt, denn mehrere Finger des Jungen waren gebrochen. Der weinende Junge wurde ins Krankenhaus gebracht.

Am nächsten Tag kam er mit seinen Eltern, um über den Vorfall zu reden. Die Eltern fragten den Lehrer, wie er den kleinen Jungen absolut grundlos so schwer verletzen konnte. Der Lehrer wehrte sich gegen die Anschuldigungen, und verwies auf das störende Spiel mit dem Bleistift. Einerseits hatte er recht, seine Reaktion war nicht grundlos. Andererseits war dies kein Grund, dem Jungen die Finger zu brechen. Er hatte also – relativ gesehen – den Schüler vollkommen grundlos bestraft.

So lag der Fall – nach Meinung unserer Weisen – auch bei der Zerstörung des Tempels. Jeder hatte irgendeinen Grund, warum er seinen Nächsten hasste. Doch mit Blick auf die Konsequenzen wirken auch die plausibelsten Motive nicht verhältnismäßig. Deswegen sagen unsere Weisen, dass unser Tempel wegen grundlosen Hasses zerstört worden ist.

Streit Jeder von uns kennt Beispiele, wenn irgendwelche kleine Auseinandersetzungen wegen unwichtiger Kleinigkeiten unbeschreibliche Ausmaße erreicht haben. Es gibt viele Menschen, sogar Familien, die jahrzehntelang miteinander zerstritten sind. Und wenn man sie nach Gründen fragt, können sie die kaum noch nennen, weil sie so unbedeutend waren, dass sie sich gar nicht mehr daran erinnern können.
Doch wenn der Streit einmal losgeht, ist er sehr schwer zu stoppen. Und die Folgen können fatal sein – nicht unbedingt nur für die streitenden Parteien, sondern für ihre gesamte Umgebung und ihre Nachkommen. Dies sollten wir immer bedenken, wenn wir dabei sind, uns mit jemandem zu streiten. Wir sollten überlegen, ob der Anlass dieser Auseinandersetzung immer noch als verhältnismäßig gelten kann, wenn wir ihn in Relation mit möglichen Folgen vergleichen.

Talmud Viele kennen bestimmt die talmudische Geschichte von Kamtza und Bar Kamtza. Darin wird über die Ereignisse berichtet, die zur Zerstörung des Zweiten Tempels und damit zum 2.000 Jahre langen Exil geführt haben. Die Geschichte erzählt von einem reichen jüdischen Mann, der einen Freund namens Kamtza und einen Feind namens Bar Kamtza hatte. Er veranstaltete ein großes Festmahl und befahl seinem Diener, Kamtza einzuladen. Doch ging die Einladung irrtümlich an Bar Kamtza. Der dachte, dass ihn sein Feind endlich um Vergebung bitten wollte, und nahm die Einladung an. Aber als der Gastgeber Bar Kamtza auf seinem Fest bemerkte, forderte er ihn auf, sofort zu gehen.

»Da ich schon hier bin«, erwiderte der, »lassen Sie mich doch bitte noch bleiben. Für alles, was ich hier esse und trinke, werde ich zahlen.« Doch der Gastgeber lehnte ab. »Dann erlauben Sie mir die Hälfte der Kosten des ganzen Banketts zu übernehmen«, bat Bar Kamtza. »Nein!«, lautete die Antwort. »Dann bin ich bereit, die vollen Kosten des Abends zu tragen, aber bitte bringen Sie mich nicht in Verlegenheit.« Doch der Gastgeber blieb hart und warf Bar Kamtza eigenhändig raus.

Als Bar Kamtza auf der Straße den Staub von seiner Kleidung entfernte, sagte er zu sich selbst: »Dass mir auch die beim Bankett anwesenden Rabbiner nicht geholfen haben, zeigt, dass sie mit ihm übereinstimmen. Ich werde sie vor dem Kaiser verleumden.«

Opfer Bar Kamtza ging zu Kaiser Nero und sagte ihm, dass die Juden einen Aufstand gegen ihn planten. »Wie kann ich wissen, dass du die Wahrheit erzählst?«, fragte Nero. »Wählen Sie ein Tier, um es im Tempel zu opfern, und schauen Sie, ob es akzeptiert wird«, antwortete Bar Kamtza.

Nero sandte eines seiner schönsten Kälber mit einer römischen Delegation, Bar Kamtza begleitete sie. Während der Reise machte Bar Kamtza heimlich einen Makel auf das Tier, der es als Opfer untauglich machte. Das Kalb wurde in Jerusalem nicht akzeptiert. Als Kaiser Nero dies erfuhr, wurde er sehr wütend. In Folge ließ er den Tempel zerstören.

Und so sagen unsere Weisen, dass nur wegen des Streits zwischen Kamtza und Bar Kamtza das Heiligtum vernichtet wurde. Diese Geschichte sollte uns zu denken geben: Wir können diese drei Wochen vor dem 9. Aw nutzen, und daraus lernen: Was könnte aus unseren Streitigkeiten resultieren, welche Ausmaße könnten sie annehmen, wie viele Menschen könnten mit hineingezogen werden? Und: Stets ist der Frieden allem anderen vorzuziehen, denn die Folgen eines jeden Streits können fatal sein.

München

Knobloch lobt Merz-Rede in Synagoge

Am Montagabend wurde in München die Synagoge Reichenbachstraße wiedereröffnet. Vor Ort war auch der Bundeskanzler, der sich bei seiner Rede berührt zeigte. Von jüdischer Seite kommt nun Lob für ihn - und ein Appell

von Christopher Beschnitt  16.09.2025

Rosch Haschana

Jüdisches Neujahrsfest: Bischöfe rufen zu Verständigung auf

Stäblein und Koch betonten in ihrer Grußbotschaft, gerade jetzt dürfe sich niemand »wegducken angesichts von Hass und Antisemitismus«

 16.09.2025

Bayern

Merz kämpft in Synagoge mit Tränen

In München ist die Synagoge an der Reichenbachstraße feierlich wiedereröffnet worden, die einst von den Nationalsozialisten zerstört wurde. Der Bundeskanzler zeigte sich gerührt

von Cordula Dieckmann  17.09.2025 Aktualisiert

Ki Tawo

Echte Dankbarkeit

Das biblische Opfer der ersten Früchte hat auch für die Gegenwart eine Bedeutung

von David Schapiro  12.09.2025

Talmudisches

Schabbat in der Wüste

Was zu tun ist, wenn jemand nicht weiß, wann der wöchentliche Ruhetag ist

von Yizhak Ahren  12.09.2025

Feiertage

»Zedaka heißt Gerechtigkeit«

Rabbiner Raphael Evers über Spenden und warum die Abgabe des Zehnten heute noch relevant ist

von Mascha Malburg  12.09.2025

Chassidismus

Segen der Einfachheit

Im 18. Jahrhundert lebte in einem Dorf östlich der Karpaten ein Rabbiner. Ohne je ein Werk zu veröffentlichen, ebnete der Baal Schem Tow den Weg für eine neue jüdische Strömung

von Vyacheslav Dobrovych  12.09.2025

Talmudisches

Stillen

Unsere Weisen wussten bereits vor fast 2000 Jahren, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt

von David Schapiro  05.09.2025

Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Ethan Tucker leitet eine Jeschiwa, die sich weder liberal noch orthodox nennen will. Kann so ein Modell auch außerhalb New Yorks funktionieren?

von Sophie Goldblum  05.09.2025