Teschuwa

Einander die Hand reichen

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Mit Rosch Haschana beginnen die Asseret Jemej Teschuwa, die zehn Bußtage, die mit Jom Kippur enden. Es ist bekanntermaßen eine Zeit, in der wir über unsere Taten des vergangenen Jahres nachdenken und auf jene Mitmenschen zugehen sollen, mit denen wir uns gestritten haben. »Teschuwa« (Umkehr) bezeichnet diesen Prozess.

Nicht über Streit, sondern über eine Diskussion erzählt uns die folgende Geschichte, die Rabbiner Ahron Daum in seinem Buch Die Feiertage Israels aufgeschrieben hat: »Ein Rabbiner sagte einst zu seinen Schülern: ›Wir sind so weit von dem entfernt, wo Gott uns haben möchte, wie der Osten vom Westen.‹«

nachdenken Diese Bemerkung regte die Schüler zum Nachdenken an. Darauf fragte der Rabbiner sie: »Wie weit ist der Osten eigentlich vom Westen entfernt?« Ein Schüler meldete sich sofort und meinte: »11.000 Meilen, das habe ich gerade in einem Buch gelesen.« Der Rabbiner antwortete: »Nein, das ist falsch.«

Ein anderer Schüler meldete sich und sagte: »22.000 Meilen. Das ist der Umfang der Erde.« Der Rabbiner antwortete: »Nein, das ist ebenfalls falsch. Die Entfernung vom Osten zum Westen beträgt einen Schritt. Man blickt nach Osten – macht einen Schritt, dreht sich um – und blickt nach Westen.«

Ein Schritt – das mag sich nach wenig anhören und kann dennoch einen großen Unterschied machen. Ein Schritt mag über Leben und Tod entscheiden – etwa ein Auto, das einem anderen Auto auszuweichen versucht, dabei einen Fußgänger übersieht und einen Schritt vor dem Fußgänger zum Stehen kommt.

schritt Bleiben wir bei einem Schritt – und schauen auf die Toralesung vom ersten Tag Rosch Haschana. Wir lesen, dass Sara lachte, als Jizchak geboren war. Lachen und Weinen hängen oft eng miteinander zusammen. Freude und Trauer ebenso. War doch Sara zuvor noch verzweifelt gewesen, weil sie nicht schwanger wurde. Daher sprach sie zu Awraham: »Siehe doch, mich hat Gott verschlossen, dass ich nicht gebäre; komm doch zu meiner Magd, vielleicht werde ich bekindert von ihr« (1. Buch Mose 16,2).

So wird Hagar schwanger und bekommt einen Sohn, Jischmael. Doch als Jizchak geboren war, scheint plötzlich kein Platz mehr für beide.

So lesen wir am ersten Tag Rosch Haschana, wie Sara zu Awraham spricht: »Jage diese Magd und ihren Sohn fort, denn der Sohn dieser Magd soll nicht mit meinem Sohn, mit Jizchak, erben.«

stammvater Es geht hier um viel mehr als nur um Besitz und Reichtümer, es geht darum, wer Awraham als Stammvater folgen wird: Jizchak oder Jischmael. Der mittelalterliche Kommentator Raschi schreibt, dass Jischmael Götzendienst trieb und daher gehen musste. Der schlechte Einfluss sollte von Jizchak ferngehalten werden. Zudem ist es ohnehin völlig undenkbar, dass ein Götzendiener Awraham folgen könnte.

Weiter heißt es: »Und leid war die Sache sehr in den Augen Awrahams um seines Sohnes willen.« Nachmanides (13. Jahrhundert) merkt an, dass es Awraham nicht schwergefallen wäre, Hagar fortzuschicken. Aber seinen Sohn, Jischmael, wollte Awraham eigentlich bei sich behalten.

Daher beruhigt Gott Awraham: »Nicht lasse es dir leid sein wegen des Jungen und wegen deiner Magd. In allem, was Sara dir sagt, höre auf ihre Stimme! Denn in Jizchak wird dir ein Same genannt werden. Doch auch den Sohn der Magd werde ich zu einem Volk machen, weil er dein Same ist.« Gottes Worte scheinen Awraham zu beruhigen. So vollzieht er diesen schweren Schritt und schickt Hagar und Jischmael in die Wüste.

Ein Schritt – lesen wir die Geschichte weiter, begegnen wir Awimelech. Er ist König von Gerar, gehört nicht zu der Familie Awrahams, die einen Bund mit Gott geschlossen hat. Heute würden wir sagen: Er war ein nichtjüdischer König.

AUGENHÖHE Dennoch spricht er zu Awraham: »Gott ist mit dir, in allem, was du tust.« Diese Worte zeigen Awraham, dass er von Awimelech so akzeptiert wird, wie er ist. Es ist eine Begegnung auf Augenhöhe.

Einen Schritt geht Awimelech jedoch nicht – er schließt sich nicht Awraham an. Das ist aus jüdischer Sicht nicht notwendig – kein Nichtjude muss jüdisch werden, es gibt keine Mission. Es geht vielmehr darum, den anderen in seinem Glauben zu respektieren und zu akzeptieren. Das tut Awimelech hier.

Leider ist dies bis heute in Deutschland keine Selbstverständlichkeit. Wenn Synagogen von der Polizei geschützt werden müssen, wenn Menschen auf die Straße gehen und Parolen skandieren, welche die Schoa relativieren oder eine ähnliche Katastrophe herbeisehnen, wenn Anschläge im Namen einer Religion verübt werden, dann sehen wir, wie weit wir von dem entfernt sind, was uns Awraham und Awimelech vorleben.

Dabei zeigen uns Awraham und Awimelech, dass man nicht unbedingt immer einer Meinung sein muss. So berichtet die Tora: »Awraham stellte Awimelech zur Rede wegen des Wasserborns, den die Knechte Awimelechs geraubt hatten.« Awimelech bestreitet, davon gewusst zu haben. Es scheint ein Missverständnis zu sein, ein unerfreuliches Handeln der Diener Awimelechs. Am Ende gehen Awraham und Awimelech friedlich auseinander. Statt Gewalt zu üben, tragen sie Meinungsverschiedenheiten friedlich aus und suchen den Dialog. Ein wichtiger Schritt, für manche so nah, für andere ganz fern.

VERSÖHNUNG Den Dialog sollten wir in den nächsten Tagen mit unseren Mitmenschen suchen, besonders jenen, mit denen wir uns im vergangenen Jahr gestritten haben. Miteinander sprechen, einander die Hand reichen und so Versöhnung erwirken. Wichtig ist, dass unsere Umkehr ehrlich gemeint ist, dass wir uns fest vornehmen, das jeweilige Vergehen nie wieder zu begehen.

Dabei brauchen wir keine Sorge zu haben. Teschuwa bedeutet nicht, lange Wege zurückzulegen und zu versuchen, über scheinbar unüberwindbare Hürden zu springen. Umkehr bedeutet, unsere Richtung zu ändern – nämlich statt uns vom jeweils anderen zu entfernen, auf ihn zuzugehen. Dazu bedarf es nur eines Schrittes.

Der Autor ist Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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