Wajeschew

Ein weiter Weg

Sein Vater hätte es besser wissen müssen. Hatte der denn nicht selbst erlebt, welch ungute Folgen es hat, wenn einer der Söhne offen von einem Elternteil bevorzugt wird? Und doch macht Jakow denselben Fehler mit ihm, Josef, dem Sohn seiner Lieblingsfrau Rachel, noch dazu geboren als »Sohn seines Alters«. Ein farbiges Gewand lässt er ihm machen, wie für einen Prinzen, und er wehrt ihn nicht ab, als Josef ihm eifrig zuträgt, was die Brüder wieder an wenig Löblichem gesagt oder getan haben. Das macht ihn zum Ziel des Hasses unter den Geschwistern. »Sie hassten ihn und vermochten nicht, freundlich mit ihm zu reden« (1. Buch Mose 37,4).

Josef hütet mit seinen Brüdern die Schafe, und ansonsten sucht er offenbar die Gesellschaft jener Brüder, die von den Mägden Bilha und Silpa abstammen. Es ist Josef vermutlich bewusst, wie sehr ihn Leas Söhne ablehnen.

Und nun macht sich Josef noch unbeliebter, als er stolz von seinem Traum erzählt, in dem sich die Garben der Brüder vor Josefs Garbe verneigten. »Ach so, herrschen willst du über uns?« (37,8). Und sie mögen sich gedacht haben: Das bunte Herrschergewand hat er ja schon an.

Beim zweiten Traum, als Josef schildert, wie sich Sonne, Mond und elf Sterne vor ihm verbeugt haben, wird sogar sein Vater unwirsch: »Sollen wir etwa kommen, ich und deine Mutter und deine Brüder, und uns vor dir zur Erde verbeugen?« (37,10). Seine Mutter? Josefs leibliche Mutter ist bei der Entbindung vom jüngsten Bruder Benjamin gestorben. Nun ist Lea die Matriarchin der Familie, und ihre leiblichen Söhne nehmen es begreiflicherweise übel, dass Josef vom Vater schon beinahe wie der künftige Anführer des Stammes behandelt wird.

Josef ist der erklärte Liebling seines Vaters, und doch ist er sehr allein

Josef ist der erklärte Liebling seines Vaters, und doch ist er anscheinend sehr allein und vielleicht auch unglücklich in dieser großen Familie. Wenn er dem Vater die Reden seiner Brüder hinterbringt, handelt es sich dabei etwa um Dinge, die ihn selbst betreffen? Wendet er sich an den Vater um Schutz vor den Brüdern? Sicher, der Vater liebt ihn. Aber nirgendwo steht, dass er seinen anderen Söhnen ins Gewissen redet.

Auch Jakow muss doch gemerkt haben, wie sie mit seinem Lieblingssohn umgehen. Beschränkt sich seine Vaterliebe auf Geschenke? Und liebt Jakow Josef womöglich nur deswegen, weil er Rachels Sohn ist? Dieser Gedanke mag auch Josef schon gekommen sein. Hat der Vater ihm das edle bunte Kleidungsstück vielleicht deswegen geschenkt, weil er in ihm eine Art Ersatz für die schöne Rachel sieht?

Jedenfalls ist es genau dieses bunte Gewand, das den Brüdern zum Inbegriff ihres tödlichen Hasses wird. Sie nehmen es Josef gewaltsam ab, zerreißen es, tauchen es in das Blut eines geschlachteten Ziegenbocks und überbringen es so ihrem Vater. Was für ein Symbol!

Derweil wird Josef der Sklave eines hochrangigen Ägypters namens Potifar, des Obersten der pharaonischen Leibwache. Josef ist kein verwöhnter Lieblingssohn mit hochfliegenden Träumen mehr. Er muss sich sehr schnell der Realität stellen und Verantwortung übernehmen, und er tut dies wohl sehr gut. Nun ist Josef offenbar ein sehr attraktiver Mann. Das weckt Begehrlichkeiten bei Potifars Frau, und er kommt in eine Situation, in der er wieder einmal sein Gewand zurücklassen muss und dieses als falsches Beweisstück verwendet wird.

Potifars Frau ist wütend über die Zurückweisung durch Josef

Potifars Frau ist wütend über die Zurückweisung durch Josef und bezichtigt ihn der versuchten Vergewaltigung. Zweimal erzählt sie die Geschichte, die sie sich zurechtgelegt hat, jedes Mal mit fast denselben Worten, was ihre Glaubwürdigkeit eher untergräbt als stärkt. Ist ihrem Mann das aufgefallen, oder ist Potifar das Wesen seiner Frau nur allzu gut bekannt? Er mag Josef, er hat ihm vertraut. Und vermutlich vertraut er ihm immer noch, mehr als seiner Gattin. Wohl lesen wir, dass er Josef ins Gefängnis bringt.

Schließlich ist Potifar verpflichtet, angemessen zu reagieren, um sein Gesicht zu wahren. Doch lässt er Josef nicht töten und auch nicht in das letzte Loch werfen (man denke an die Zisterne, in die ihn seine Brüder warfen). Immerhin sitzen in diesem Gefängnis hochrangige Hofbeamte ein, und keine gewöhnlichen Verbrecher. Und offenbar ist Potifar auch der oberste Verantwortliche für dieses Gefängnis. Denn es heißt, dass die beiden in Ungnade gefallenen Hofbeamten »in das Haus des Obersten der Leibwache« kommen, nämlich in genau das Gefängnis, in dem sich auch Josef befindet.

Letztlich untersteht Josef damit weiter Potifar, nur arbeitet er jetzt nicht mehr als Verwalter von Potifars eigenem Haus, sondern als eine Art Verwalter im Gefängnis. Auf jeden Fall aber schätzt Potifar weiterhin Josefs Arbeit, und wie schon als Verwalter in Potifars Anwesen heißt es, dass Josef auch jetzt großes Vertrauen genießt, und dass der Oberste des Gefängnisses »nicht nach dem Geringsten sah«, sondern alles »in die Hand Josefs gab«.

Eines Tages haben seine beiden prominenten Gefangenen einen Traum und erzählen ihm davon. Vermutlich ist Josef bekannt, dass der Pharao in drei Tagen seinen Geburtstag feiert, und der Inhalt der beiden Träume legt auch eine entsprechende Deutung nahe. Doch Josef verweist darauf, dass die Deutung dem Ewigen obliegt.

Josef ist dem Bösen, das ihm begegnet, gewachsen

Josef hat gelernt, sich zurückzunehmen, und er hat begonnen, auf den Ewigen zu vertrauen, auch wenn er noch als Sklave im Gefängnis sitzt. Josef hat einen weiten Weg zurückgelegt seit jenen Träumen seiner Jugend, innerlich wie äußerlich. Dieser Weg ist durchaus nicht geradlinig verlaufen. Immer wieder gerät der junge Mann in Situationen, die sein Leben auf den Kopf stellen. Vermutlich hat er oft mit seinem Schicksal gehadert.

Und doch ist Josef gerade auch an dem Bösen, das ihm begegnet, gewachsen, wodurch er schließlich zu dem Mann heranreift, der einst so viele Menschen retten wird, darunter seine eigene Familie. Auch Josef erkennt dies im Rückblick, und er versteht, dass es der Ewige war und ist, der ihn auf diesem Weg geführt hat, nach Seinem Plan, der so viel größer ist als die Pläne von uns Menschen.

Die Autorin ist Rabbinerin der Liberalen Jüdischen Gemeinde Mischkan ha-Tfila Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).

inhalt
Der Wochenabschnitt Wajeschew erzählt, wie Josef – zum Ärger seiner Brüder – von seinem Vater Jakow bevorzugt wird. Zudem hat Josef Träume, in denen sich die Brüder vor ihm verneigen. Eines Tages schickt Jakow Josef zu den Brüdern hinaus auf die Weide. Die Brüder verkaufen ihn in die Sklaverei nach Ägypten und erzählen dem Vater, ein wildes Tier habe Josef gerissen. Jakow glaubt ihnen. In der Sklaverei steigt Josef zum Hausverwalter auf. Doch nachdem ihn die Frau seines Herrn Potifar der Vergewaltigung beschuldigt hat, wird Josef ins Gefängnis geworfen. Dort lernt er den königlichen Obermundschenk sowie den Oberbackmeister des Pharaos kennen und deutet ihre Träume. Die Geschichte von Tamar unterbricht die Josefsgeschichte wie ein Zwischenspiel.
1. Buch Mose 37,1 – 40,23

Talmudisches

Nach der Sieben kommt die Acht

Was unsere Weisen über die Grenze zwischen Natur und Wunder lehren

von Vyacheslav Dobrovych  12.12.2025

Chanukka

Nach dem Wunder

Die Makkabäer befreiten zwar den Tempel, doch konnten sie ihre Herrschaft nicht dauerhaft bewahren. Aus ihren Fehlern können auch wir heute lernen

von Rabbiner Julian-Chaim Soussan  12.12.2025

Quellen

Es ist kompliziert

Chanukka wird im Talmud nur selten erwähnt. Warum klammerten die Weisen diese Geschichte aus?

von Rabbiner Avraham Radbil  11.12.2025

Religion

Israels Oberrabbiner erstmals auf Deutschlandbesuch

Kalman Ber startet seine Reise in Hamburg und informiert sich dort über jüdisches Leben. Ein Schwerpunkt: der geplante Neubau einer Synagoge

 10.12.2025

Thüringen

Jüdische Landesgemeinde und Erfurt feiern Chanukka

Die Zeremonie markiert den Auftakt der inzwischen 17. öffentlichen Chanukka-Begehung in der Thüringer Landeshauptstadt

 08.12.2025

Wajischlach

Zwischen Angst und Umarmung

Die Geschichte von Jakow und Esaw zeigt, wie zwei Brüder und zwei Welten wieder zueinanderfinden

von Rabbiner Joel Berger  05.12.2025

19. Kislew

Himmlischer Freispruch

Auch wenn Rosch Haschana schon lange vorbei ist, feiern Chassidim dieser Tage ihr »Neujahr«. Für das Datum ist ausgerechnet der russische Zar verantwortlich

von Chajm Guski  05.12.2025

Talmudisches

Freundlich grüßen

Was unsere Weisen über Respekt im Alltag lehren

von Yizhak Ahren  04.12.2025

Begnadigung

Eine Frage von biblischer Tragweite

Die Tora kennt menschliche Reue, gerichtliche Milde und g’ttliche Gnade – aber keine juristische Abkürzung

von Rabbiner Raphael Evers  03.12.2025