Sijum Haschas

Ein neues Blatt aufschlagen

Alle siebeneinhalb Jahre ist es so weit: Ein Durchgang im Studium des kompletten Babylonischen Talmuds – mit einer Seite pro Tag – ist abgeschlossen. Das Beenden eines solchen Lernzyklus, genannt »Sijum Haschas«, ist in der orthodoxen jüdischen Welt seit fast 90 Jahren ein Anlass für riesige Feiern. Doch auch säkulare Juden interessieren sich zunehmend für den Talmud – und es gibt immer mehr Angebote, ihn online zu studieren.

Daf-JOMI-programm Das »Daf Jomi«-Programm, das Lernen des gesamten Babylonischen Talmuds mit einem Blatt pro Tag, war am ersten Tag von Rosch Haschana, am 11. September 1923, vom Leiter der »Yeshivas Chachamej Ljublin«, Rabbiner Yehuda Meir Shapiro (1887–1933), eingeführt worden.

Das Studium dauert 2711 Tage – genauso viele Seiten hat der Babylonische Talmud. Der erste Sijum Haschas wurde am 2. Februar 1931 in verschiedenen europäischen Städten und in Jerusalem begangen. Die Hauptfeier fand in Lublin statt.

Diesmal, beim 13. Sijum Haschas, fiel die Veranstaltung auf den bürgerlichen Neujahrstag. Im MetLife-Stadion in East Rutherford im US-Bundesstaat New Jersey kamen am vergangenen Mittwoch, dem 1. Januar, unter schweren Sicherheitsvorkehrungen fast 90.000 orthodoxe Jüdinnen und Juden zum 13. »Sijum Ha-Schas« zusammen. Sie beteten, sangen und feierten – Männer und Frauen getrennt. Die Feier wurde von Agudath Israel of America organisiert, einer ultraorthodoxen jüdischen Dachorganisation.

Yitzchak Meir Helfgot sang das El-Male-Rachamim-Gebet zum Gedenken an die sechs Millionen Opfer der Schoa.

Yitzchak Meir Helfgot, Kantor der Park East Synagogue und weltweit wohl bekanntester Interpret jüdischer Liturgie, sang – wie bereits beim 12. Sijum Haschas – das El-Male-Rachamim-Gebet zum Gedenken an die sechs Millionen Opfer der Schoa.

Zum bis dato größten Sijum Haschas in der Geschichte Amerikas waren im August 2012 im MetLife Stadium mehr als 90.000 orthodoxe Juden zusammengekommen. Jetzt, siebeneinhalb Jahre später, wurde die Teilnehmerzahl von damals nicht ganz erreicht. Der Grund war möglicherweise auch die angespannte Stimmung im Vorfeld. In den Wochen zuvor hatten sich antisemitische Attacken in den USA gehäuft. Darunter war der Angriff auf Juden mit einer Machete in Monsey, bei dem fünf Menschen zum Teil schwer verletzt wurden.

Aaron Stein, der an der Zeremonie teilnahm, sagte laut einem Bericht des US-Senders CBS, nach den jüngsten Attacken auf Juden in den USA wolle er sich nicht verstecken. Francine Stein, die ebenfalls gekommen war, sagte dem Sender, sie wolle zeigen, »dass wir stark sind und dass man uns nicht stoppen kann«. Sie habe zwar Bedenken wegen der Sicherheit, aber »ich weiß, dass man uns schützt«.

Der Gouverneur von New Jersey, Phil Murphy, schrieb auf Twitter: »Als wir heute den Sijum Haschas im MetLife Stadium gefeiert haben, waren die Opfer der schrecklichen antisemitischen Anschläge in New Jersey und Monsey in unseren Herzen. Wir werden die Dunkelheit durch Licht vertreiben, indem wir immer an der Seite unserer jüdischen Gemeinde stehen. Antisemitismus und Hass haben hier kein Zuhause.«

Der Sikum war »eine Chance, sich vom Schmerz abzuwenden, von den Nachrichten, der Gewalt, der Angst«. Avital Chizhik Goldschmidt

Doch Avital Chizhik-Goldschmidt, Redakteurin bei der jüdischen Zeitung »The Forward«, betonte in ihrem Bericht, die Veranstaltung sei alles andere gewesen als ein politisches Zeichen des Widerstands gegen den aktuellen Antisemitismus. »In dem vierstündigen Programm wurde von einem Dutzend Redner die Gewalt, die dieser Gemeinschaft täglich begegnet, kaum erwähnt«, schrieb die orthodoxe jüdische Journalistin.

Der Sijum Haschas sei vielmehr völlig unpolitisch verlaufen: »Es war keine Demonstration, kein Marsch, keine Versammlung.« Vielmehr sei es ein fundamentaler Teil der orthodoxen Psychologie, sich gerade in Zeiten von Angriffen auf die eigenen spirituellen Ressourcen zu besinnen.

»An dieser Stelle kommen unsere Bücher ins Spiel – die Tora und der Talmud«, betonte Avital Chizhik-Goldschmidt. Sie ist die Frau von Rabbiner Benjamin Goldschmidt, der wie Kantor Helfgot an der Park East Synagogue amtiert: »Wenn die Lage schlechter wurde und wir fliehen mussten, waren unsere Bücher oft das Einzige, was wir mitnehmen konnten.«

Zuflucht Die orthodoxe Journalistin zitierte den Talmudgelehrten Yeshoshua ben Levi: »Einer, der alleine geht, ohne einen Freund, und sich fürchtet, sollte sich mit dem Torastudium beschäftigen.« An einer anderen Stelle schlage der Talmud vor, dass jemand, der physischen Schmerz leide, in der Tora Zuflucht suchen solle. Der Sijum Haschas sei genau dies gewesen: »eine Chance, sich vom Schmerz abzuwenden, von den Nachrichten, der Gewalt, der Angst«.

Auf einer großen Leinwand wurde bei der Feier im MetLife-Stadion die Parallelveranstaltung des 13. Sijum Haschas im Barclays Center in Brooklyn übertragen. Dort feierten etwa 20.000 Teilnehmer mit Gebeten und Tänzen und leiteten damit einen Neubeginn des Talmudstudiums ein. Nach Angaben der Organisatoren wurden kleinere Zeremonien in 80 Städten in insgesamt 15 Ländern abgehalten.

In Jerusalem trafen sich erstmals 3000 Frauen zu einer »Sijum«-Feier.

In Jerusalem gab es eine Feier, die in dieser Form völlig neu war: Im Kongresszentrum der Stadt trafen sich am vergangenen Sonntag 3000 Frauen zum Sijum Haschas. Organisiert hatte das Event – es wurde per Livestream weltweit übertragen – Michelle Cohen Farber von der Organisation Hadran.

Ein »Hadran« (»Wir werden zurückkommen«) ist ein Text, der nach jedem Talmudtraktat oder nach jeder Mischnaordnung gesprochen wird. Der Grund: Man wünscht sich, zum Traktat »zurückkehren« zu können und den Inhalt nicht zu vergessen.

Das Projekt hatte als täglicher Unterricht für eine kleine Gruppe von Frauen in der israelischen Stadt Raanana begonnen. Farber, die bisher einzige Frau, die einen gesamten Talmudzyklus auch per Podcast – auf Hebräisch und Englisch – unterrichtet hatte, kommentierte die Feier in Jerusalem mit dem »Schehechianu«-Segen: »Gelobt seist Du, der Du uns leben ließest und uns diese Zeit hast erreichen lassen!«

Männerdomäne Die »Times of Israel« berichtete, bei der Veranstaltung in Israels Hauptstadt seien auch ultraorthodoxe Frauen unter den Zuhörerinnen gesehen worden, obwohl in ihren Gemeinden das Studium des Talmuds immer noch eine Männerdomäne ist und viele ultraorthodoxe Jüdinnen sich heimlich zum Talmudstudium treffen.

Der Talmud ist ein kompliziertes Werk mit Diskussionen von Gelehrten, die aus halachischen Texten (Gesetze) und haggadischen Texten (Erzählungen) besteht. Es wird auch Gemara oder »mündliche Tora« genannt und wurde zwischen dem fünften und achten Jahrhundert unserer Zeitrechnung abgeschlossen.

Die Gemara ist überwiegend in Aramäisch verfasst und beruht auf dem hebräischsprachigen Werk Mischna mit rabbinischen Lehren, das im zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung abgeschlossen wurde.

Auch für säkulare Juden ist das tägliche Studium der Quellen interessant.

Auch für säkulare Juden kann das Talmudstudium intellektuell herausfordernd sein. Auf der Website »My Jewish Learning« wird dafür geworben, dem »größten Buchklub der Welt« beizutreten und sich täglich mit dem Text eines Blattes von einer der wichtigsten jüdischen Quellen auseinanderzusetzen.
Doch muss man Aramäisch oder zumindest Hebräisch können, um den Talmud zu studieren? Nein, heißt es bei »My Jewish Learning«: Für ein tieferes Verständnis sei Hebräisch zwar notwendig, doch auch eine Übersetzung sei geeignet, um sich mit talmudischen Texten auseinanderzusetzen.

Fragen Auch sei es nicht nötig, praktizierender Jude zu sein, um sich mit dem Talmud zu beschäftigen: »Es ist ein Text für die, die eher mit Fragen leben als Antworten gefunden haben. Wenn Sie eine denkende, fragende Person sind, die nicht alles glaubt, was an der Oberfläche zu sehen ist, dann ist das Talmudstudium vielleicht auch etwas für Sie.«

Das Studium dauert 2711 Tage – genauso viele Seiten hat der Babylonische Talmud.

Schätzungsweise 350.000 Juden weltweit beteiligen sich bereits an »Daf Jomi«-Programmen. Wer sich bei »My Jewish Learning« dafür anmeldet, kann auch einer Facebook-Gruppe beitreten, in der talmudische Texte diskutiert werden.

In jedem Fall hat der neue Zyklus des Talmudstudiums am vergangenen Sonntag begonnen. Und an dessen Ende steht wieder ein Abschluss: Der 14. Sijum Haschas wird im Juni 2027 gefeiert.

www.myjewishlearning.com

https://hadran.org.il

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