Faksimile

Ein 400 Jahre altes, neues Handbuch

Es gibt Bücher, deren Erscheinen an ein Wunder grenzt. Eine solche Publikation ist Der Sefer Evronot des Judah Mehler Reutlingen, die Annett Martini und Dieter Bingen bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft herausgegeben haben. Glückliche Umstände haben es möglich gemacht, dass eine Faksimile-Ausgabe eines handgeschriebenen Kalenderwerks aus dem 17. Jahrhundert – das Manuskript befindet sich in der Berliner Staatsbibliothek – jetzt in Buchhandlungen zu erwerben ist.

Dieter Bingen, ein Nachkomme des Autors in der elften Generation, war fasziniert von der beeindruckenden Farbkraft, der Schönheit und Geheimnisfülle eines für ihn unentzifferbaren Kleinods: »Die Handschrift rief geradezu danach, als Faksimile-Ausgabe veröffentlicht und so jüdischen Studien und einer größeren Öffentlichkeit zugänglich gemacht zu werden.« Ein Verlag musste nun für dieses ungewöhnliche Projekt gefunden werden, und auch jemand, der fähig und bereit war, den hebräischen Text ins Deutsche zu übersetzen und mit Erläuterungen zu versehen.

Ohne Zweifel verdient die nun vorliegende Edition viel Lob. Dem Text und den Zeichnungen von Rabbiner Judah Mehler Reutlingen (1609–1659) sind drei Essays zur Einführung vorangestellt worden. Dieter Bingen beschreibt familiäre Netzwerke und rabbinische Traditionslinien. Matthias Schmandt behandelt die Frage, warum der Autor sein Buch in Bingen am Rhein schrieb und in dieser Stadt blieb, obwohl ihm attraktivere Rabbiner-Stellen angeboten wurden. Annett Martini bespricht das Kalenderwerk im kulturhistorischen Spiegel seiner Zeit. Die genannten Artikel sind sehr instruktiv und sollten keinesfalls überschlagen werden.

In seinem schönen und lehrreichen Buch erklärt Rabbiner Mehler die Grundlagen des jüdischen Kalenders. Interkalationen, Einschaltungen eines zweiten Monats Adar in feststehenden Abständen, sind notwendig, um einen Ausgleich zu schaffen zwischen einem Mondjahr von 354 Tagen und dem Sonnenjahr von 365 Tagen – sonst würde Pessach nicht immer im Frühjahr gefeiert werden (was die Tora vorschreibt) und Rosch Haschana, Jom Kippur und Sukkot nicht im Herbst.

Die Leser erfahren, wie man den »Molad« (Monatsanfang) berechnet und auch, wie die Kalkulation der Tekufot (Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Winteranfang) aussieht. Weil man am 60. Tag nach Herbstbeginn das Gebet für Regen in das Achtzehngebet einschaltet, ist es wichtig, die Daten der Tekufot zu kennen. Ins Detail gehend, bespricht Rabbiner Mehler viele Kalenderfragen, die für das jüdisch-religiöse Leben von Bedeutung sind.

Die gelehrten Ausführungen des Gemeinderabbiners von Bingen ins Deutsche zu übersetzen, ist keine leichte Aufgabe. Es ist daher nicht verwunderlich, dass da und dort Fehler unterlaufen sind. An dieser Stelle seien nur zwei Corrigenda notiert. Die hebräische Abkürzung Vav-Mem-He, die auf nicht weniger als 20 Tafeln jeweils mehrfach vorkommt, wusste die Übersetzerin nicht aufzulösen, und sie hat diese wiederkehrende Angabe einfach weggelassen. Auf Seite 216 steht: »Man beginnt am 26. Nissan, die Abschnitte Vav-Mem-He zu lesen.« Diese Aussage ergibt keinen Sinn. Was bedeutet Vav-Mem-He? Die Buchstaben sind eine Abkürzung von »Umevarchin HaChodesch«; man verkündigt den Neumondstag. Bei den Abschnitten, die man am besagten Datum zu lesen beginnt, handelt es sich um »Die Sprüche der Väter«, die in vielen Siddurim abgedruckt sind.

Rabbiner Mehler behandelt in seinem Kalenderwerk auch solche Themen, die wir heute in einem solchen Lehrbuch überraschend und seltsam finden. Einige Kostproben dieser Regeln und Empfehlungen: »Wenn der Monatsbeginn des Tewet an einem Sonntag ist, wird es viel Regen geben.« Oder: »Wenn es am Jom Kippur bewölkt ist, wird das ganze Jahr gut.« Erstaunlich, was für den Monat Kislew empfohlen wird: »Du solltest viel sexuellen Verkehr haben und Honigwasser, Honig und alles Süße zu dir nehmen.«

Erwähnenswert ist auch, dass der Verfasser im Anhang zu seinem Buch eine Abhandlung des berühmten Tora-Lehrers Schlomo Luria (1510–1573) bringt, die er abgeschrieben und illustriert hat. Es handelt sich um eine kabbalistische Interpretation von Psalm 67, den Rabbiner Luria mit dem siebenarmigen Leuchter im Tempel in Verbindung gebracht hat. Die Abbildung des goldenen Leuchters ist eine von zahlreichen Zeichnungen, die den Sefer Evronot so farbenfroh machen.

Annett Martini, Dieter Bingen (Hrsg.): »Der Sefer Evronot des Judah Mehler Reutlingen. Ein prächtiges Kalenderwerk aus dem frühneuzeitlichen Bingen«. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2023, 366 S., 125 €

Jan Feldmann

Eine Revolution namens Schabbat

Wir alle brauchen einen Schabbat. Selbst dann, wenn wir nicht religiös sind

von Jan Feldmann  19.11.2025

Religion

Rabbiner: Macht keinen Unterschied, ob Ministerin Prien jüdisch ist

Karin Priens jüdische Wurzeln sind für Rabbiner Julian-Chaim Soussan nicht entscheidend. Warum er sich wünscht, dass Religionszugehörigkeit in der Politik bedeutungslos werden sollte

von Karin Wollschläger  19.11.2025

Sachsen-Anhalt

Judenfeindliche Skulptur in Calbe künstlerisch eingefriedet

Die Kunstinstallation überdeckt die Schmähfigur nicht komplett. Damit soll die Einfriedung auch symbolisch dafür stehen, die Geschichte und den immer wieder aufbrechenden Antisemitismus nicht zu leugnen

 19.11.2025

USA

6500 Rabbiner auf einem Foto

»Kinus Hashluchim«: Das jährliche Treffen der weltweiten Gesandten von Chabad Lubawitsch endete am Sonntag in New York

 17.11.2025

Talmudisches

Torastudium oder weltliche Arbeit?

Was unsere Weisen über das rechte Maß zwischen Geist und Alltag lehren

von Detlef David Kauschke  14.11.2025

Chaje Sara

Bewusster leben

Sara hat gezeigt, dass jeder Moment zählt. Sogar ihr Schlaf diente einem höheren Ziel

von Samuel Kantorovych  13.11.2025

Spurensuche

Von Moses zu Moses zu Reuven

Vor 75 Jahren starb Rabbiner Reuven Agushewitz. Er verfasste religionsphilosophische Abhandlungen mit einer Intensität, die an Maimonides und Moses Mendelssohn erinnert. Wer war dieser Mann?

von Richard Blättel  13.11.2025

Wajera

Awrahams Vermächtnis

Was wir vom biblischen Patriarchen über die Heiligkeit des Lebens lernen können

von Rabbiner Avraham Radbil  07.11.2025

Talmudisches

Rabbi Meirs Befürchtung

Über die falsche Annahme, die Brachot, die vor und nach der Lesung gesprochen werden, stünden im Text der Tora

von Yizhak Ahren  07.11.2025