Hildesheimer Vortrag

Die verletzbare Mehrheit

Die Verteidigung des menschlichen Geistes – der Schutz der Verletzlichen aus der Perspektive jüdischen Rechts»: Der vierte «Hildesheimer Vortrag» des Berliner Rabbinerseminars und der Berliner Studien zum Jüdischen Recht an der Humboldt-Universität stand im Zeichen der Flüchtlingskrise und der aktuellen Bedrohung durch Terror.

Der südafrikanische Oberrabbiner Warren Goldstein sagte in seinem Vortrag am Montagabend im Senatssaal der Universität vor etwa 200 Zuhörern: «Wir leben in verwirrenden und gefährlichen Zeiten – und in Zeiten, die enorme Chancen bieten.» Gerade in solchen Zeiten sei es geboten, sich auf der Suche nach tieferen Einsichten dem jüdischen Recht zuzuwenden.

tora Die Tora gebiete, die Verletzlichsten einer Gesellschaft zu beschützen – wie Fremde, Sklaven oder eines Verbrechens beschuldigte Angeklagte. Doch zu bestimmten Zeiten könne auch die Gesellschaft selbst als ihr schwächster Teil gelten, führte Rabbiner Goldstein aus.

Europa stehe derzeit vor einem großen Dilemma. Einerseits seien Flüchtlinge «die verletzlichsten Menschen auf Erden: Wer kann verletzlicher sein als jemand, der kein Haus hat, keine Sicherheit, keine Bildungsmöglichkeiten für die Kinder und nichts, das er seinen Kindern zu essen geben kann?», fragte Goldstein.

Andererseits seien auch Menschen verletzlich, die Terrorattacken ausgesetzt sind: «Es ist gleichzeitig ein moralisches Prinzip, sich um Flüchtlinge zu kümmern, aber es ist auch ein moralisches Gebot, die Gesellschaft vor Terrorattacken zu beschützen.»

Rabbiner Andrew Savage, Deutschland-Direktor der Ronald S. Lauder Foundation und Vorstandsmitglied des Kuratoriums des Rabbinerseminars zu Berlin, sagte in seiner Einführung zu Goldsteins Vortrag, die Tora betone das Recht des Schwächeren, weil die Juden selbst Fremde in einem fremden Land (Ägypten) gewesen seien. Doch in Zeiten des Terrors gelte auch: «Es sind nicht immer nur Minderheiten, die verletzlich sind.»

Anschläge Konkret nannte Savage den Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt am 19. Dezember 2016 «nur einige Kilometer von hier entfernt, oder die Promenade in Nizza». Die Mehrheit entdecke derzeit, «dass sie sehr verletzlich ist und des Schutzes bedarf. Wer ist also verletzlich? Jeder – und überall», so Rabbiner Savage.

Der Hildesheimer Vortrag ist eine regelmäßige Kooperation zwischen dem Rabbinerseminar zu Berlin und den Berliner Studien zum Jüdischen Recht an der Humboldt-Universität zu Berlin. Im Dezember 2015 hatte der frühere britische Oberrabbiner Lord Jonathan Sacks den Vortrag gehalten.

Lesen Sie mehr in der kommenden Ausgabe.

Tasria-Mezora

Segen der eigenen Scholle

Warum die »landgebundenen Gebote« der Tora dazu verpflichten, eine gerechte Gesellschaft zu formen

von Yonatan Amrani  02.05.2025

Talmudisches

Geben und Nehmen

Was unsere Weisen über Mond und Sonne lehren

von Vyacheslav Dobrovych  02.05.2025

Meinung

Jesus, Katrin und die Pharisäer

Katrin Göring-Eckardt zeichnet in einem Gastbeitrag ein negatives Bild der Pharisäer zur Zeit von Jesus. Dabei war der selbst einer

von Thomas Wessel  01.05.2025

Konklave

Kommt der nächste Papst aus Jerusalem?

Wer wird der nächste Papst? Die geheimen Treffen im Vatikan lassen die Welt spekulieren. Als heißer Kandidat wird ein Patriarch aus Jerusalem gehandelt

 30.04.2025

Interview

»Der Dialog mit dem Vatikan ist regelrecht eingeschlafen«

Maram Stern über den künftigen Papst und den stockenden jüdisch-christlichen Dialog

von Tobias Kühn  29.04.2025

Halacha

Kann ein Jude die Beerdigung des Papstes besuchen?

Papst Franziskus wird diesen Samstag, an Schabbat, beerdigt. Observante Juden könnte das vor komplizierte Fragen stellen

von Vyacheslav Dobrovych  25.04.2025

Schemini

Offene Türen

Die Tora lehrt, auch Fremde freundlich zu empfangen

von Rabbiner Bryan Weisz  25.04.2025

Nachruf

Förderer des katholisch-jüdischen Dialogs, aber auch harter Kritiker Israels

Papst Franziskus im Alter von 88 Jahren gestorben. Sein langjähriger Gesprächspartner, Rabbiner Jehoschua Ahrens, nimmt Abschied

von Rabbiner Jehoschua Ahrens  28.04.2025 Aktualisiert

Chol Hamoed

Nur Mosche kannte die Freiheit

Warum das Volk Israel beim Auszug aus Ägypten ängstlich war

von Rabbinerin Yael Deusel  17.04.2025