Alltag

Die Suche nach der guten Seite

Im destruktiven Verhalten in Wort und Tat sehen viele instinktiv negative Absichten und Beweggründe. Wir gehen davon aus, dass dieser Mensch nicht nur verantwortlich ist, sondern auch genau weiß, was er für ein Unheil anrichtet und dennoch von seinem Tun nicht ablässt – zum eigenen Vorteil.

Diese Herangehensweise plagt uns seit Tausenden von Jahren und hat unglaubliches Leid und Entzweiung zwischen den Menschen und auch in den jüdischen Gemeinden verursacht.
Wir müssen aber lernen, andere Menschen wohlwollend zu beurteilen, ihren Taten und Worten positive Motive oder zumindest zu unterstellen, dass dahinter keine »böse Absicht« liegt. Wir müssen uns klar machen, dass das Verhalten des anderen uns vielleicht falsch erscheinen mag, dieser es aber genau für richtig hält.

In der Tora, im Wochenabschnitt Wajikra, 3. Buch Moses 19,15, steht: »Du sollst deine Mitmenschen mit Gerechtigkeit beurteilen«. Und im Talmud wird erklärt: »Beurteile deine Mitmenschen zum Vorteil.« (Schawuot 30a) Ähnliches finden wir im Kapitel 1,6 in der Ethik unserer Väter: »Man sollte jeden Menschen wohlwollend beurteilen.«

Zweifel Was bedeutet dies? Grundlegend betrachtet, ermahnt es uns zum »In dubio pro reo«. Wenn wir jemanden dabei beobachten, wie er oder sie etwas tut, was nicht richtig ist, dann gebietet die Bibel, nach dem rechtlichen Grundsatz »im Zweifel für den Angeklagten« zu urteilen.

Die Tat, aber eben nicht den Menschen zu be- oder verurteilen, ist zwar eine Herangehensweise, die unserem Gefühl widerspricht, aber sie ist aus zwei Gründen von großem Nutzen: Wenn Sie Ihre Einstellung ändern können, werden Sie nicht nachtragend sein. Wenn wir einem Menschen, der etwas Falsches tut, negative Motive unterstellen, dann füllt sich unser Hirn instinktiv mit negativer Energie. Wenn man andererseits lernen kann, die Menschen in einem positiven Licht zu betrachten, unabhängig von ihren Taten, dann kann man sein eigenes Herz davor bewahren, von der Wut aufgezehrt zu werden.

Zum anderen werden Sie viel besser in der Lage sein, diesem Menschen Ihre Gefühle zu vermitteln, wenn Sie ihn nicht in die Defensive drängen und wütend machen. Wenn die Person das Gefühl hat, dass er nicht als ein »schlechter Mensch« betrachten wird, der Böses will, sondern als »guter Mensch«, der einen Fehler gemacht hat, dann wird die Kritik wahrscheinlich weitaus effektiver sein.

Motive Beobachten Sie sich selbst. Wenn Sie für Ihr Verhalten kritisiert werden – wann nehmen Sie diese an? Wenn Ihnen negative oder positive Motive unterstellt werden? Die Antwort ist offensichtlich. Wenn es Sie wirklich ärgert, was eine Person getan hat, dann ist der beste Weg zur Veränderung solchen Verhaltens, den Menschen wohlwollend zu kritisieren. Negative Vorurteile erschweren eine Veränderung von Einstellungen und Verhaltensweisen.

Der Komponist und Geschichtenerzähler Reb Schlomeleh Carlebach erzählte einst die Geschichte von einem Schabbat, den er in einer Gemeinde im Nachkriegseuropa feierte. Als er am Schabbat in die Schul kam, war er von dem amtierenden Kantor enttäuscht. Der Mann verschluckte Wörter und seine Stimme war kaum zu hören. Noch schlimmer war seine Aussprache des hebräischen Textes. Carlebach überlegte, ob der Kantor vielleicht der Synagoge Geld gezahlt habe, um hier beten zu dürfen. Er war so unzufrieden, dass er in einen Seitenraum ging, um dort alleine zu beten. Er kehrte jedoch zur Lesung der Tora in den Hauptraum der Synagoge zurück.

Als er hereinkam, bemerkte er, wie der Kantor mit der Tora-Rolle im Arm auf dem Weg zur Bima von zwei Männern geführt werden musste. Als er näher hinsah, stellte er fest, dass der Kantor blind war. Schlomeleh fragte den neben ihm stehenden Mann, wer denn dieser Hazan sei. Der Mann erzählte ihm, dass der Kantor vor dem Krieg der Oberkantor der großen jüdischen Gemeinde in der ehemaligen polnischen Stadt Lemberg (Lviv) gewesen sei. Wenn er dort die G’ttesdienste geleitet habe, sei seine Stimme kräftig gewesen und in die Herzen jedes Betenden eingedrungen. Juden aus ganz Europa seien dorthin gekommen, um seinen herzerwärmenden Gebeten zu lauschen.

Dann wurde das Land von den Nazis besetzt und der Kantor nach Auschwitz deportiert. Er habe zwar das Todeslager überlebt, erklärte ihm der Mitbeter, aber sein Augenlicht und seine Stimme verloren. »Wir haben ihn immer darum gebeten, für uns zu beten«, erzählte der Mann weiter, »aber er hatte dies stets abgelehnt. Heute hat er sich bereit erklärt.«

Seele Schlomeleh wäre vor Scham am liebsten im Erdboden versunken. »Von Schuld- und Schamgefühlen überwältigt, wartete ich, bis der Kantor an mir vorbeilief. Als er dann mit der Tora-Rolle näher kam, küsste ich seine heiligen Hände«, berichtete er später von dieser Begegnung. »Er fragte, wer seine Hände geküsst hatte. Man sagte ihm: ›Schlomeleh Carlebach‹. Er sagte: ›Schlomo, ich liebe deine Niggunim (Melodien). Sie haben mir meine Seele wiedergegeben.‹«

Das ist die Wahrheit des Lebens: Wir wissen nichts über die Nöte und die Versuchungen der Menschen um uns herum – von Tränen durchtränkten Kissen, den Tragödien des Lebens, die sich hinter einem Lächeln verstecken und den Sorgen, die das Leben verkürzen und ihre Spuren hinterlassen. Die Tora lehrt uns, dass wir der Last eines anderen nicht auch noch den Schmerz unserer Beurteilung hinzufügen sollen. Wir sollen nachdenken, bevor wir sprechen. Man kennt nie die »ganze Geschichte« eines Menschen. Deshalb warnt auch ein anderer Spruch aus der Ethik: »Urteile nicht über deine Mitmenschen, bis du dich selbst in ihrer Lage befindest.«

Der Satz, »du sollst jeden Menschen wohlwollend beurteilen«, hört sich so an, als würde die Mischna uns befehlen, »jeden Menschen zu beurteilen«. Aber warum sollen wir den anderen beurteilen? Logischer wäre die Formulierung: »Urteile über niemanden!«

Forderung Diese Aufforderung geht aber mit dem Zusatz »wohlwollend« einher und dies scheint die eigentliche Botschaft zu sein. Dies geht sogar noch weiter, denn wir sollen bei falschem Handeln entsprechend die schwierigen Umstände mit berücksichtigen. Das hilft, bescheiden zu bleiben und sich dem Sünder gegenüber nicht erhaben zu fühlen. So erfüllen wir das, was die Mischna uns auferlegt: Wir betrachten die Defizite unserer Mitmenschen in einem positiven Licht.

Aber welches positive Element wird durch die Fehler eines Menschen impliziert? Selbst wenn ich die großen Schwierigkeiten dieser Person anerkenne, so machen diese das Verhalten nicht besser.

Eine Erklärung kann aus einem anderen talmudischen Spruch herausgelesen werden: »Wer größer als seine Mitmenschen ist, dessen Neigung (zum Bösen) ist auch größer.« Derjenige, der mit größeren Talenten oder Qualitäten beschenkt wurde, muss gegen eine Neigung zur Korruption und zum Bösen ankämpfen, die weitaus ausgeprägter sein kann, als bei einem eher »durchschnittlichen« Menschen. Im Gegenzug sind demjenigen, der in seinem Leben mit größeren Herausforderungen und Schwierigkeiten zu kämpfen hatte, ein ebenso großes Maß an Stärke und Potenzial gegeben worden.

Das ist die Regel im Leben: G’tt befähigt jeden Menschen dazu, ein moralisches und anständiges Leben zu führen. Wenn jemand schwierigen Versuchungen widerstehen muss oder sich mit ernsten Herausforderungen konfrontiert sieht, so bedeutet dies, dass er ebenso über die spirituellen Ressourcen verfügt, dieser Versuchung zu widerstehen.

Wenn also ein anderer Mensch eine kriminelle Tat begangen hat, die so fürchterlich ist, dass es die Vorstellungskraft übersteigt, dann sollte man sich bewusst sein, dass der Täter zweifellos auch über ein Potenzial zum Guten verfügt. Anders gesagt, schau nicht auf das, was er ist, sondern auf das, was er sein könnte.

wohlwollen »Beurteile jeden Menschen mit Wohlwollen« ist tatsächlich ein Gebot, die anderen zu beurteilen. Wenn man bei anderen Negatives bemerkt, dann soll man das trotzdem positiv betrachten. Wir sollen unseren Fokus auf die großen Verdienste dieses Menschen lenken. Anhand des Negativen können wir erkennen, über wie viel positives Potenzial dieser Mensch verfügt. Indem wir uns auf diesen Aspekt konzentrieren, helfen wir diesem Menschen, sich dessen bewusst zu werden und das positive und tugendhafte Potenzial zu entwickeln.

Die meisten von uns betrachten andere Menschen und sehen nur, was sie zu sein scheinen. Große Menschen betrachten andere und sehen, was diese sind. Die Tora fordert uns auf, noch einen Schritt weiter zu gehen: Betrachte die anderen und sieh, was aus ihnen werden könnte. Erkenne die Verdienste, die irgendwo tief drinnen in ihnen schlummern, die es ihnen erlauben, Herausforderung zu bestehen.

Der Autor ist Direktor des Jüdischen Bildungszentrums Berlin.

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