Talmudisches

Die sechs Jahreszeiten

Im Talmud wird nicht darüber diskutiert, ob es sechs Jahreszeiten gibt, sondern wann sie beginnen. Foto: Getty Images/iStockphoto

»Die fünfte Jahreszeit« – diese Bezeichnung für den Karneval kennen auch diejenigen, die nicht im Rheinland leben. Natürlich ist das scherzhaft gemeint, aber sind die vier Jahreszeiten, die wir kennen, tatsächlich die einzig mögliche Einteilung? Immerhin ist sie ja von Menschen erdacht worden.

Tatsächlich gibt es im traditionellen chinesischen Kalender 24 Halbmonate, die so etwas wie Jahreszeiten sind. Und der Hindu-Kalender kennt sechs Jahreszeiten – ebenso der Talmud. Sie sind im jüdischen Leben der Gegenwart nur nicht präsent.

Jahreskreislauf Nach der Geschichte der großen Flut beschloss G’tt: »Fortan, alle Tage der Erde, sollen Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter und Tag und Nacht nicht gestört sein« (1. Buch Mose 8,22).

Dieser kurze poetische Text, der keine chronologische Abfolge beschreibt, sondern eher Gegensätze, wurde in Talmud und Midrasch so verstanden, dass der Jahreskreislauf fortan nicht mehr unterbrochen sein würde: Saat, Ernte, Frost, Hitze, Sommer, Winter.

Raschi (1040–1105) kommentiert dies an dieser Stelle entsprechend und bezieht sich damit auf den Talmud. Dort wird in Bawa Mezia 106b berichtet: »Rabbi Schimon ben Menasja sagte: ›Die Hälfte des (Monats) Tischri, Cheschwan und die Hälfte des Kislew, das ist die Zeit der Saat (Zera). Die (andere) Hälfte des Kislew, Tewet und die (erste) Hälfte des Schwat, das ist der Winter (Choref). Die (andere) Hälfte des Schwat, Adar und die (erste) Hälfte des Nissan ist Frost (Kor). Die (andere) Hälfte des Nissan, der Ijar und die (erste) Hälfte des Siwan, das ist Ernte (Katzir). Die (zweite) Hälfte des Siwan, der Tamus und die (erste) Hälfte des Aw, das ist der Sommer (Kajitz). Die (zweite) Hälfte des Aw, der Elul und die (erste) Hälfte des Tischri, das ist Hitze (Chom).‹ Rabbi Jehuda zählt (die Jahreszeiten) vom Beginn des Tischri ausgehend, und Rabban Schimon ben Gamliel zählt sie von Cheschwan ausgehend.«

Es gibt also keine Diskussion darüber, ob es sechs Jahreszeiten gibt, sondern nur darüber, wann sie beginnen. Jede dieser Perioden habe ihre Eigenschaften. So sei Kor kälter als der eigentliche Winter und Chom besonders heiß. Denn es heißt: »Das Ende des Sommers ist schlimmer als der Sommer selbst« (Joma 29a).

Anfänge Es fällt auf, dass die Anfänge der Jahreszeiten nicht am Monatsanfang liegen, sondern in der Mitte – wenn man Rabbi Schimon ben Menasja folgt.

Das wiederum ist der Grund für eine andere Entscheidung im Talmud, die uns sonst immer ein wenig zufällig erschien. Es geht um die Jahreszeit Kor – Frost: Diese beginnt in der zweiten Hälfte des Monats Schwat. Die Mitte des Monats ist der 15., in hebräischer Schrift mit Tet und Waw geschrieben und ausgesprochen »Tu«. »Tu Bischwat«, das sogenannte »Neujahrsfest der Bäume«.

Wenn es also im Talmud heißt, das Neujahr der Bäume sei von Schammaj für den ersten Schwat bestimmt worden, aber das Haus Hillels bestimmte den 15., und die Halacha geht nach ihm (Rosch Haschana 2a), dann wundert das »krumme« Datum nicht mehr, denn mit dem 15. Schwat beginnt zugleich eine neue Jahreszeit.

Die Mitte des Monats Schwat ist der Mittelpunkt zwischen Wintersonnenwende und der Tagundnachtgleiche im Frühling. Von nun an geht es aufwärts mit der Natur. Der Beginn der Jahreszeit »Katzir« (Ernte) ist ebenfalls leicht zu merken. Sie beginnt am 15. Nissan. Das ist der erste Tag von Pessach. Und »Sera« (Saat) beginnt am 15. Tischri und fällt somit auf Sukkot, das Laubhüttenfest. Würde man die Jahreszeiten als Kreis aufzeichnen, lägen sich Sukkot und Pessach gegenüber.

Dieses etwas detailliertere System der Jahreszeiten ist eine Mischung aus Natur­beobachtung und »Kultivierung« – zumin­dest auf der Nordhalbkugel.

Konzil

»Eine besondere Beziehung«

»Nostra Aetate« sollte vor 60 Jahren die Fenster der katholischen Kirche weit öffnen – doch manche blieben im christlich-jüdischen Dialog verschlossen. Ein Rabbiner zieht Bilanz

von David Fox Sandmel  21.11.2025

Toldot

An Prüfungen wachsen

Warum unsere biblischen Ureltern Hungersnöte und andere Herausforderungen erleben mussten

von Vyacheslav Dobrovych  20.11.2025

Kalender

Der unbekannte Feiertag

Oft heißt es, im Monat Cheschwan gebe es keine religiösen Feste – das gilt aber nicht für die äthiopischen Juden. Sie feiern Sigd

von Mascha Malburg  20.11.2025

Talmudisches

Gift

Was unsere Weisen über die verborgenen Gefahren und Heilkräfte in unseren Speisen lehren

von Rabbinerin Yael Deusel  20.11.2025

Jan Feldmann

Eine Revolution namens Schabbat

Wir alle brauchen einen Schabbat. Selbst dann, wenn wir nicht religiös sind

von Jan Feldmann  19.11.2025

Religion

Rabbiner: Macht keinen Unterschied, ob Ministerin Prien jüdisch ist

Karin Priens jüdische Wurzeln sind für Rabbiner Julian-Chaim Soussan nicht entscheidend. Warum er sich wünscht, dass Religionszugehörigkeit in der Politik bedeutungslos werden sollte

von Karin Wollschläger  19.11.2025

Sachsen-Anhalt

Judenfeindliche Skulptur in Calbe künstlerisch eingefriedet

Die Kunstinstallation überdeckt die Schmähfigur nicht komplett. Damit soll die Einfriedung auch symbolisch dafür stehen, die Geschichte und den immer wieder aufbrechenden Antisemitismus nicht zu leugnen

 19.11.2025

USA

6500 Rabbiner auf einem Foto

»Kinus Hashluchim«: Das jährliche Treffen der weltweiten Gesandten von Chabad Lubawitsch endete am Sonntag in New York

 17.11.2025

Talmudisches

Torastudium oder weltliche Arbeit?

Was unsere Weisen über das rechte Maß zwischen Geist und Alltag lehren

von Detlef David Kauschke  14.11.2025