Schemini

So kritisieren Sie richtig!

Aharon hat seine beiden Söhne verloren und weist mit Bedacht seinen Bruder Mosche zurecht

von Rabbinerin Yael Deusel  14.04.2023 11:10 Uhr Aktualisiert

So nicht: Andere zu kritisieren, will gelernt sein. Foto: Getty Images/iStockphoto

Aharon hat seine beiden Söhne verloren und weist mit Bedacht seinen Bruder Mosche zurecht

von Rabbinerin Yael Deusel  14.04.2023 11:10 Uhr Aktualisiert

»Es war am achten Tag.« Eigentlich sollte dieser Tag zum Höhepunkt des Festes werden. »Heute wird der Ewige euch erscheinen«, so hatte es Mosche verkündet. Aber es geschieht etwas Unfassbares: Aharons Söhne Nadav und Avihu haben »fremdes Feuer« vor den Ewigen gebracht, und die Flamme des Ewigen tötet sie.

Generationen von Gelehrten haben gerätselt, was mit diesem »fremden Feuer« wohl gemeint sei. War es ein Fehler im Ritual aus Unerfahrenheit, war es eine absichtliche Übertretung? Und worin genau lag die Übertretung?

Da unmittelbar nach dem Tod von Aharons Söhnen geboten wird, man solle keinen Wein oder starke Getränke zu sich nehmen, bevor man sich in das Zelt der Zusammenkunft begibt, folgerten manche Ausleger, Nadav und Avihu seien womöglich betrunken gewesen.

REINHEIT Vielleicht findet sich eine Erklärung aber auch im zweiten Sinnabschnitt unserer Parascha, der sich mit Reinem und Unreinem beschäftigt, von den Kaschrutvorschriften bis zur rituellen Reinheit, von erlaubten und verbotenen Lebensmitteln über Gegenstände bis hin zum Unreinwerden von Menschen durch Kontakt mit Verbotenem. Jedes irdene Gefäß, in das etwas Unreines hineinfällt, gilt als unrein und muss zerbrochen werden.

Ist nicht auch der Mensch als Ben Adam, als Sohn Adams, letztlich ein »irdenes Gefäß«? Jedenfalls begingen Nadav und Avihu mit dem »fremden Feuer« offenbar ein Unrecht, und durch Feuer wurde es gesühnt.

Was tatsächlich geschehen ist und warum eine so drastische Sühne erfolgte, werden wir wohl nicht erfahren. In jedem Fall ist es eine menschliche Tragödie. Und während wir uns Gedanken machen um das Warum, bleibt einer beinahe unbeachtet, nämlich Aharon, ein Vater, der soeben zwei Söhne verloren hat.

Er schweigt, lesen wir. Es ist Mosche, der jetzt die Initiative ergreift. Er gibt eine Erklärung ab, lässt die Toten wegbringen und beruft umgehend Aharons jüngere Söhne Eleasar und Itamar zum Priesterdienst.

Mosche handelt, und Aharon schweigt. Würde man nicht erwarten, dass Aharon jetzt seinen Schmerz herausschreit, vielleicht sogar Mosche Vorwürfe macht? Doch das tut er nicht. Was mag wohl in ihm vorgehen?

PFLICHTEN Mosche hat inzwischen die beiden neuen Kohanim in ihre Pflichten eingewiesen. Das Fest geht weiter; persönliche Trauer, persönliche Probleme haben zurückzustehen hinter der offiziellen Pflichterfüllung. So hat es Mosche immer gehalten. Was er von sich verlangt, verlangt er auch von anderen. Oder ist das seine Art, mit Schicksalsschlägen umzugehen? Versteckt er seine Trauer, sein Verletztsein hinter eiserner Disziplin?

Mosche geht, um nach dem Verbleib des Entsündigungsopfers zu sehen, doch es ist verbrannt. Aufgebracht macht er Eleasar und Itamar deswegen Vorwürfe, wobei diese beiden wohl am wenigsten etwas dafür können. Da spricht Aharon zu Mosche: »Heute haben sie (meine Söhne) ihr Sünd- und ihr Ganzopfer dargebracht vor dem Ewigen, und da traf mich solches. Hätte ich nun heute das Sündopfer gegessen, wäre es gut gewesen in den Augen des Ewigen?«

Damit sagt Aharon seinem Bruder Mosche zum einen: Hör mal, du kennst wohl die Vorschriften nicht richtig? Und zum anderen: Sag mal, lieber Bruder, du hast wohl vergessen, dass ich um meine Söhne trauere? Aharon sagt es ganz ruhig. Auch jetzt reagiert er weder mit Beschimpfungen noch mit Beleidigungen. Stattdessen wählt er mit Bedacht die richtigen Worte und macht damit seinen Standpunkt klar, ohne Mosche zu verletzen.
Hier, in diesem Moment, ist Aharon, der so oft schweigt und nachgibt, seinem Bruder Mosche mehr als ebenbürtig.

Mosche versteht sofort, und er nimmt die Worte Aharons an. »Mosche hörte es, und es war gut in seinen Augen.«

Pflichterfüllung ist wichtig, aber ohne Menschlichkeit macht sie erbarmungslos. So lehrt auch das Prinzip von Hillels goldener Regel Achtsamkeit im Umgang miteinander. Erlauben wir es uns, unsere Familienmitglieder, Kollegen und Nachbarn, aber auch uns selbst als Menschen mit Gefühlen und Bedürfnissen wahrzunehmen und zu behandeln.

Die Autorin ist Rabbinerin der Liberalen Jüdischen Gemeinde Mischkan ha-Tfila Bamberg und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).

inhalt
Der Wochenabschnitt Schemini schildert zunächst die Amtseinführung Aharons und seiner Söhne als Priester sowie ihr erstes Opfer. Dann folgt die Vorschrift, dass die Priester, die den Dienst verrichten, weder Wein noch andere berauschende Getränke trinken dürfen. Der Abschnitt listet auf, welche Tiere koscher sind und welche nicht, und er erklärt, wie mit der Verunreinigung durch tote Tiere umzugehen ist.
3. Buch Mose 9,1 – 11,47

Toldot

Jäger und Kämpfer

Warum Jizchak seinen Sohn Esaw und nicht dessen Bruder Jakow segnen wollte

von Rabbiner Bryan Weisz  29.11.2024

Talmudisches

Elf Richtlinien

Wie unsere Weisen Psalm 15 auslegten

von Yizhak Ahren  29.11.2024

Ethik

»Freue dich nicht, wenn dein Feind fällt«

Manche Israelis feiern auf den Straßen, wenn Terroristenführer getötet werden. Doch es gibt rabbinische Auslegungen, die jene Freude über den Tod von Feinden kritisch sehen

von Rabbiner Dovid Gernetz  29.11.2024

Potsdam

In der Tradition des liberalen deutschen Judentums

Die Nathan Peter Levinson Stiftung erinnerte an ihren Namensgeber

 28.11.2024

Kalender

Der unbekannte Feiertag

Oft heißt es, im Monat Cheschwan gebe es keine religiösen Feste – das gilt aber nicht für die äthiopischen Juden. Sie feiern Sigd

von Mascha Malburg  28.11.2024

Berlin

Spendenkampagne für House of One startet

Unter dem Dach des House of One sollen künftig eine Kirche, eine Synagoge und eine Moschee Platz finden

von Bettina Gabbe, Jens Büttner  25.11.2024

Chaje Sara

Handeln für Generationen

Was ein Grundstückskauf und eine Eheanbahnung mit der Bindung zum Heiligen Land zu tun haben

von Rabbiner Joel Berger  22.11.2024

Talmudisches

Elefant

Was unsere Weisen über die Dickhäuter lehrten

von Rabbiner Netanel Olhoeft  22.11.2024

Studium

»Was wir von den Rabbinern erwarten, ist enorm«

Josh Spinner und Josef Schuster über die orthodoxe Rabbinerausbildung

von Mascha Malburg  21.11.2024