Freier Wille

Die richtige Richtung

Optionen offen: Wir selbst entscheiden, wohin es gehen soll. Foto: Thinkstock

Der Wochenabschnitt Balak erzählt davon, wie der moabitische König Balak einsieht, dass er nicht in der Lage ist, das jüdische Volk militärisch zu besiegen. Er versteht, dass Israels Stärke nicht in der physischen, sondern in der spirituellen Kraft liegt. Aus diesem Grund entscheidet er sich, ins Herz des jüdischen Volkes zu stechen: in seine Geistigkeit. Für diese Aufgabe versucht er, den größten nichtjüdischen Propheten aller Zeiten, Bileam, zu rekrutieren. Nur er – manche sagen, er sei Mosche in seiner prophetischen Kraft nicht unterlegen gewesen – hatte die geistige Fähigkeit, das jüdische Volk zu verfluchen.

Und so sandte Balak Boten, die Bileam dazu überreden sollten, das jüdische Volk zu verfluchen. Bileam, der sich als sehr religiös und g’ttesfürchtig erwies, sagte, dass er nur nach dem Willen G’ttes handeln würde und Ihn erst einmal dazu befragen müsse. Doch G’tt wollte nicht, dass das von Ihm gesegnete Volk verflucht wird. Also war Bileam gezwungen, die Boten vorerst mit leeren Händen nach Hause zurückzuschicken.

Geld Aber König Balak gab nicht auf und erhöhte seinen Preis. Noch angesehenere Boten wurden zu Bileam geschickt, die ihm noch mehr Geld und Ehre für die Verfluchung des jüdischen Volkes anboten. Offenbar musste sich dieselbe Geschichte wiederholen. Bileam sagte, dass er G’ttes Meinung darüber erfahren möchte. Aber plötzlich »ändert« sich G’ttes Meinung – Er sagt: »Wenn dich zu laden die Männer gekommen sind, mache dich auf, geh mit ihnen« (4. Buch Mose 22,20).

Wie kann es sein, dass G’tt Bileam jetzt etwas vollkommen anderes sagt als kurz zuvor? In Vers 12 steht doch: »Da sprach G’tt zu Bileam: ›Du sollst nicht mit ihnen gehen!‹« Der Talmud (Makkot 10b) fragt, wie es möglich ist, dass G’tt Seine Meinung so schnell ändert. Die Antwort, die uns der Talmud auf diese Frage gibt, ist eine wichtige Lebensweisheit, die wir uns alle einprägen sollten: »Den Weg, den ein Mensch gehen möchte, diesen Weg wird er auch geführt.«

Wahl Mit anderen Worten: G’tt gibt uns zwar klare Anweisungen, was richtig und was falsch ist im Leben. So wie es in der Tora steht: »Ich lege vor euch das Leben und den Tod.« Unseren Weg wählen, also uns für das Richtige oder Falsche entscheiden, uns für das Leben oder den Tod festlegen, müssen wir selbst. Darin besteht unsere Willensfreiheit. Doch sobald wir uns für einen Weg entschieden haben, wird uns geholfen, diesen Weg zu gehen – egal, ob er richtig ist oder falsch.

Bileam war ein Mensch, der sehr auf Ehre und Reichtum bedacht war. Also war er von Anfang an fest dazu entschlossen, mit Balaks Boten zu ziehen und das jüdische Volk zu verfluchen. Wenn dem nicht so wäre, hätte er G’tt beim zweiten Mal nicht gefragt, ob er gehen soll oder nicht, denn G’tt hatte ihm schon einmal gesagt, dass Er nicht wolle, dass Bileam das jüdische Volk verflucht. Aber er fragte G’tt nur, um eine Rechtfertigung für seine Taten zu bekommen, seine Entscheidung stand längst fest.

Aus diesem Grund sagte G’tt beim zweiten Mal zu Bileam, er solle mit den Boten gehen. Beim ersten Mal hatte G’tt ihm erklärt, was in dieser Situation richtig und was falsch gewesen ist. Doch die Tatsache, dass Bileam dieselbe Frage erneut stellte, mit dem einzigen Unterschied, dass es nun um mehr Geld und Ehre ging, zeigte ganz klar, wo Bileams Prioritäten lagen. Also ließ G’tt ihn mit den Boten ziehen.

Adam Einen ähnlichen Gedanken finden wir in einer der bekanntesten Geschichten des Tanachs: in der über Adam und die verbotene Frucht. Nachdem Adam von der Frucht gegessen hatte, versteckte er sich plötzlich vor G’tt. Natürlich fragt sich jeder, wie es sein kann, dass Adam versucht, sich zu verstecken? Er hat doch eben erst »von Angesicht zu Angesicht« mit G’tt kommuniziert? Weiß er nicht, dass G’tt allsehend und allwissend ist? Was ging vor in seinem Kopf?

Doch noch verwirrender ist, wie G’tt darauf reagiert. Er fängt an, Fragen zu stellen: »Wo bist du? Hast du von dem Baum gegessen?« Ja, weiß er das denn nicht? Widerspricht das nicht unseren Glaubensgrundsätzen, die betonen, dass G’tt allgegenwärtig und allwissend ist?

Führung Die Antwort auf diese Fragen ist einfach: Wenn ein Mensch anfängt, sich selbst zu belügen, und versucht, sich vor G’tt zu verstecken, spielt G’tt mit und lässt den Menschen in dem Glauben, dass es ihm tatsächlich gelingen kann, sich vor G’tt zu verstecken. In derselben Weise offenbart sich G’tt jedem, der aufrichtig und eifrig nach Ihm sucht. Oder mit anderen Worten: »Den Weg, den ein Mensch beschreiten möchte, diesen Weg wird er auch geführt.« G’tt hilft uns dabei, unsere Entscheidungen durchzusetzen, indem er die äußeren Umstände beeinflusst, um uns den Weg, den wir ausgewählt haben, zu erleichtern.

Es gibt viele Menschen, die sagen, dass sie nicht an G’tt glauben können, weil sie Ihn noch nie gesehen haben. Natürlich können sie Ihn nicht sehen, denn wenn sie nicht bereit sind, die Hand G’ttes in den Geschehnissen ihres Lebens oder im Weltgeschehen zu erkennen, wird auch G’tt sich vor ihnen verbergen.

Wenn ein Mensch sich lediglich als Statist sehen möchte, wird ihm jeder Beweis dafür geliefert. Wenn ein Mensch jedoch nach G’tt sucht, wird auch G’tt Seinerseits keine Möglichkeit auslassen, sich ihm zu offenbaren. Doch der Mensch muss den ersten Schritt machen und den Willen zeigen, nach G’tt zu suchen, und sich nicht vor Ihm verstecken. Der Talmud sagt: Wenn der Mensch für G’tt eine Spalte öffnet, die so groß ist wie ein Nadelöhr, wird G’tt dort einen Elefanten hindurchschieben. Der Mensch muss aber bereit sein, diese Spalte zu öffnen und offen zu lassen. Nur so kann man G’tt finden.

Mögen wir alle den für uns richtigen Weg aussuchen, und möge G’tt uns helfen, diesen Weg zu beschreiten.

Der Autor ist Rabbiner der Israelitischen Gemeinde Freiburg.

Paraschat Balak

Der Wochenabschnitt hat seinen Namen von dem moabitischen König. Dieser fürchtet die Israeliten und beauftragt den Propheten Bileam, das Volk Israel zu verfluchen. Doch Bileam segnet sie und prophezeit, dass die Feinde fallen werden.

4. Buch Mose 22,2 – 25,9

Mezora

Die Reinheit zurückerlangen

Die Tora beschreibt, was zu tun ist, wenn Menschen oder Häuser von Aussatz befallen sind

von Rabbinerin Yael Deusel  18.04.2024

Tasria

Ein neuer Mensch

Die Tora lehrt, dass sich Krankheiten heilsam auf den Charakter auswirken können

von Yonatan Amrani  12.04.2024

Talmudisches

Der Gecko

Was die Weisen der Antike über das schuppige Kriechtier lehrten

von Chajm Guski  12.04.2024

Meinung

Pessach im Schatten des Krieges

Gedanken zum Fest der Freiheit von Rabbiner Noam Hertig

von Rabbiner Noam Hertig  11.04.2024

Pessach-Putz

Bis auf den letzten Krümel

Das Entfernen von Chametz wird für viele Familien zur Belastungsprobe. Dabei sollte man es sich nicht zu schwer machen

von Rabbiner Avraham Radbil  11.04.2024

Halacha

Die Aguna der Titanic

Am 14. April 1912 versanken mit dem berühmten Schiff auch jüdische Passagiere im eisigen Meer. Das Schicksal einer hinterbliebenen Frau bewegte einen Rabbiner zu einem außergewöhnlichen Psak

von Rabbiner Dovid Gernetz  11.04.2024

Berlin

Koscher Foodfestival bei Chabad

»Gerade jetzt ist es wichtig, das kulturelle Miteinander zu stärken«, betont Rabbiner Yehuda Teichtal

 07.04.2024

Schemini

Äußerst gespalten

Was die vier unkoscheren Tiere Kamel, Kaninchen, Hase und Schwein mit dem Exil des jüdischen Volkes zu tun haben

von Gabriel Rubinshteyn  05.04.2024

Talmudisches

Die Kraft der Natur

Was unsere Weisen über Heilkräuter lehren

von Rabbinerin Yael Deusel  05.04.2024