Deutung

Die Offenbarung

»Er gab dem Moses ... zwei Tafeln von Stein ...« (2. Buch Moses 31,18) Foto: Fotolia

Schawuot hat verschiedene Namen. In der Tora wird es Wochenfest, Tag der Erstlingsfrüchte oder Erntefest genannt, im Talmud Schlussfest. Im Jüdischen Krieg von Flavius Josephus wird es »der 50. Tag« genannt. Im Machsor heißt es die Zeit der Gabe unserer Tora, und seit der mittelalterlichen jüdischen Religionsphilosophie wird der Begriff Offenbarungsfest gebraucht.

Der Offenbarungsbegriff soll hier kurz erläutert werden. Verschiedene Erklärungen sind von den Weisen des Talmuds und den Gelehrten der jüdischen Religionsphilosophie dazu gegeben worden. Meines Erachtens kann man der talmudisch-midraschischen Literatur folgend zwischen vier Auffassungen unterscheiden. Die erste bezeichne ich als Maximalansicht, nach der all das, was die Gelehrten im Laufe der Geschichte gewissermaßen neu erklären, bereits Mose am Sinai gesagt worden ist (Jerusalemer Talmud, Peah 2,2).

Finger Gottes Die Antithese dazu ist die Minimalansicht, nach der Mose nur allgemeine Torainhalte offenbart worden sind. Diese Ansicht findet sich zum Beispiel in der midraschischen Erklärung zum 2. Buch Moses (31,18): »Er gab dem Moses, als er mit ihm auf dem Berge Sinai zu Ende geredet hatte, zwei Tafeln des Zeugnisses, Tafeln von Stein, beschrieben vom Finger Gottes«. Der Midrasch bezieht sich auf das Wort »zu Ende«, das im Hebräischen an alles und an allgemein anklingt und fragt: »Hat denn Moses die ganze Tora gelernt, es steht doch geschrieben ›Länger ist ihr Maß als die Erde‹? Vielmehr hat der Heilige, gepriesen sei Er, dem Mose nur allgemeine Lehren überliefert.«

Beispiele für eine dritte Ansicht, die zwischen den beiden genannten eingeordnet werden kann, finden sich im Jerusalemer Talmud (Sanhedrin, 4), wonach die Tora nach 49 Gesichtspunkten erklärt werden kann, oder im Traktat Erubin (13), wo davon die Rede ist, dass die verschiedenen Erklärungen der Weisen allesamt Gottes Worte sind.

Verstand Eine vierte Ansicht leitet den Offenbarungsinhalt aus der geschaffenen Vernunft her. Zwei Gelehrte aus der Neuzeit können hier stellvertretend angeführt werden: Arje Leib ben Joseph Hacohen (1745-1813), der Verfasser von Kezoth Hachoschen, und Hermann Jecheskel Cohen (1842-1918), der Begründer der Marburger neokantianischen Schule. In der Einleitung zu seinen Erklärungen schreibt Arje Leib Hacohen: »Die Thora ist nicht den Engeln gegeben worden, sondern dem mit Verstand begabten Menschen, und der Ewige hat uns in Seiner Güte und Barmherzigkeit die Tora gemäß der Entscheidung des menschlichen Verstandes gegeben.«

Demnach entscheiden die Gelehrten in jeder Generation über die nach ihrer Ansicht rechte Interpretation der Tora. Hermann Cohen widmet das vierte Kapitel seiner Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums dem Offenbarungsbegriff, der in Deuteronomium 5, Vers 3, verwurzelt ist: »Nicht mit unseren Vätern hat der Ewige diesen Bund geschlossen, sondern mit uns allen, die wir heute leben.« So aktualisiert Cohen den Offenbarungsinhalt, indem er Sinai in die menschliche Vernunft verlegt. »Die Vernunft fängt nicht mit der Geschichte an, sondern die Geschichte muss mit der Vernunft anfangen. Denn der Anfang soll mehr als ein zeitlicher Anfang sein; er soll einen ewigen Ursprung bedeuten.« Die vier skizzierten Positionen spiegeln den klassischen und modernen jüdischen Pluralismus wider.

Gesetz Der Pluralismus in religionsphilosophischen Themen wird durch die Gebetsriemen ausgedrückt. Denn in der Kapsel, die auf dem Kopf ruht, liegen vier Bibelabschnitte, dagegen in der Kapsel, die auf dem Arm liegt, nur einer. Dieser symbolisiert das rechte Tun, das sich in der Ausführung der gesetzlichen Vorschriften ausdrückt. Das eine Gesetz ist für alle gleichermaßen verbindlich, denn der für das ganze Volk bestimmte Kodex lässt keinen Pluralismus zu.

Die in Genf geborene Schweizer Schriftstellerin und Philosophin Jeanne Hersch aufgenommen im März 1999

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