Talmudisches

Die Lieblichkeit der Bergziege

Aus den Hörnern der Bergziege kann man ein Schofar herstellen. Foto: Getty Images/iStockphoto

Talmudisches

Die Lieblichkeit der Bergziege

Schon unsere Weisen haben sich von der Anmut der Tiere inspirieren lassen

von Chajm Guski  14.07.2022 07:46 Uhr

Das Studium der Tora hat die Weisen derart begeistert, dass sie sich Bilder entliehen, die zwar aus dem Tanach stammten, aber den Bereich der Erotik streifen. Sie betrachteten etwa diesen Text aus Mischle, dem Buch der Sprüche: »Eine liebevolle Hirschkuh, eine anmutige Bergziege (Hebräisch: Ja’aleh). Lass dich von ihren Brüsten jederzeit befriedigen; sei stets betört von der Liebe zu ihr« (5,19).

Der Talmud (Eruwin 54b) berichtet von der Deutung der Weisen: »Eine anmutige Bergziege – das bedeutet, dass die Tora denjenigen, die sie studieren, Lieblichkeit gewährt. Lass dich von ihren Brüsten jederzeit befriedigen!«

SÄUGLING Dann fragt der Talmud: »Warum werden die Dinge der Tora mit Brüsten verglichen?« Die Antwort: »So wie ein Säugling, der an der Brust nach Milch sucht (…), darin Milch findet, so ist es auch mit den Angelegenheiten der Tora. Wann immer ein Mensch über sie nachdenkt, findet er eine neue Bedeutung in ihnen.«

Liest man den Text aufmerksam, wird man den Teil mit dem Säugling leicht nachvollziehen können, aber die Erklärung für die Bergziege erscheint uns nicht nachvollziehbar. Jedenfalls aus heutiger Sicht nicht mehr. Den Weisen jedoch scheint diese Verbindung plausibel gewesen zu sein. Liegt es am Geschick der Bergziege, sich im Gebirge anmutig bewegen zu können? Verleiht ihr das die »Lieblichkeit«?

Diese Frage stellt sich auch vor dem Hintergrund einer Geschichte aus dem Traktat Bawa Batra (16ab), der die Bergziege in einem vollkommen anderen Licht erscheinen lässt. Dort wird über Hiob 39,1 diskutiert: »Kennst du die Geburtszeit der Bergziege, beobachtest du das Kreißen der Hirschkühe?«

Der Talmud fährt fort: »Die Bergziege ist ihren Jungen gegenüber grausam, und wenn sie sich zum Werfen (ihrer Jungen) niederkauern muss, so steigt sie auf eine Bergspitze, damit das Junge herabfalle und umkomme. Ich aber halte ihr einen Adler bereit, der es mit seinen Flügeln auffängt und es vor sie hinlegt. Würde er aber einen Augenblick zu früh oder einen Augenblick zu spät kommen, so würde es umkommen.«

Raschi kommentierte mit diesen Worten aus dem Talmud auch den Vers aus dem Buch Hiob. Von Zuwendung oder Lieblichkeit finden wir hier wenig. Die Zuwendung finden wir eher im Adler, der zum idealen Zeitpunkt erscheint. Oder gilt die Bergziege als angenehm, weil ihre Hörner einen besonderen Beitrag zum jüdischen Jahr leisten?

HÖRNER Aus ihren Hörnern kann man ein Schofar herstellen, und das wurde zur Zeit des Tempels auch getan. Im Talmudtraktat Rosch Haschana (26a) wird beschrieben, wie ein Schofar beschaffen sein muss, damit es an Rosch Haschana zum Einsatz kommen kann. Die beiden Trompeten, die den Klang des Schofars im Tempel begleiteten, sollten aus Silber gefertigt werden – und das Schofar aus dem Horn eines Widders, einer Ziege, einer Bergziege, einer Antilope oder einer Gazelle.

Weiter wird dann im Talmud darüber gestritten, welche Hörner denn zu bevorzugen seien – gebogene oder gerade? Die Form des Schofars beschreibe die innere Haltung an diesem Tag.

In Rosch Haschana 26b heißt es dementsprechend: »Worin besteht der Streit? – Einer ist der Ansicht, am Neujahrsfest sei es, je mehr man das Gemüt beugt, desto besser, und am Versöhnungstag dagegen sei es, je gerader das Gemüt ist, desto besser. Und der andere ist der Ansicht, am Neujahrsfeste sei es, je gerader das Gemüt ist, desto besser, und am Versöhnungstag dagegen sei es, je mehr man das Gemüt beugt, desto besser.«

Möglicherweise ist mit einem »gebeugtes Gemüt« die Lieblichkeit gemeint, von der hier die Rede war: Das Studium der Tora führt zu einem »gebeugten Gemüt«, jedenfalls bei denen, die das Gelernte ernst nehmen. Vielleicht ist ja dies die Lehre der Bergziege.

Begnadigung

Eine Frage von biblischer Tragweite

Die Tora kennt menschliche Reue, gerichtliche Milde und g’ttliche Gnade – aber keine juristische Abkürzung

von Rabbiner Raphael Evers  03.12.2025

Geschichte

Wie Regina Jonas die erste Rabbinerin wurde

Die Ordination Ende 1935 war ein Ergebnis ihres persönlichen Kampfes und ihrer Kompetenz – ein Überblick

von Rabbinerin Ulrike Offenberg  03.12.2025

New York

Das sind die Rabbiner in Mamdanis Team

Im Gegensatz zu seinem Vorgänger hat Mamdani keinen Ortodoxen in seine Übergangsausschüsse berufen – eine Lücke, die bereits im Wahlkampf sichtbar wurde

 02.12.2025

Gemeinden

Ratsversammlung des Zentralrats der Juden tagt in Frankfurt

Das oberste Entscheidungsgremium des jüdischen Dachverbands kommt einmal im Jahr zusammen

 01.12.2025 Aktualisiert

Wajeze

Aus freier Entscheidung

Wie Jakow, Rachel und Lea eine besondere Verbindung zum Ewigen aufbauten

von Paige Harouse  28.11.2025

Talmudisches

Frühstück

Was schon unsere Weisen über die »wichtigste Mahlzeit des Tages« wussten

von Detlef David Kauschke  28.11.2025

Doppel-Interview

»Wir teilen einen gemeinsamen Wertekanon«

Vor 60 Jahren brachte das Konzilsdokument »Nostra aetate« eine positive Wende im christlich-jüdischen Dialog. Bischof Neymeyr und Rabbiner Soussan blicken auf erreichte Meilensteine, Symbolpolitik und Unüberwindbares

von Karin Wollschläger  28.11.2025

Kiddusch Lewana

Im Schein des Trabanten

Auf jeden neuen Mond sprechen Juden einen Segen. Was steckt dahinter?

von Rabbiner Dovid Gernetz  27.11.2025

Konzil

»Eine besondere Beziehung«

»Nostra Aetate« sollte vor 60 Jahren die Fenster der katholischen Kirche weit öffnen – doch manche blieben im christlich-jüdischen Dialog verschlossen. Ein Rabbiner zieht Bilanz

von David Fox Sandmel  21.11.2025