Talmudisches

Die Goldene Regel

Gegenseitiger Respekt: »Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht an« (Schabbat 31a). Foto: Thinkstock

Ein Midrasch erzählt, wie einst ein Nichtjude vor Rabbi Schammai trat und zu ihm sprach: »Mache mich zu einem Proselyten unter der Bedingung, dass du mich die ganze Tora lehrst, während ich auf einem Fuß stehe.«

Da stieß ihn Schammai mit einer Elle weg. Daraufhin ging er zu Rabbi Hillel. Der machte ihn zum Proselyten und sprach zu ihm: »Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht an. Das ist die ganze Tora, alles andere sind Kommentare. Geh und lern sie!« (Schabbat 31a)

Der Satz »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!« (3. Buch Mose 19,18) wird vielen geläufig sein. Er verlangt uns eine Menge ab, denn es geht um mehr, als eine Person nur zu respektieren. Dieser Satz deutet auf alle Lebensbereiche des Menschen und umfasst alle Beziehungen: zum Schöpfer, zur Familie, zu Schwächeren und auch Beziehungen zu Menschen, die einen anfeinden. Es ist kein leichter Satz, wenn man seinem Aufruf folgen möchte.

»Goldene Regel« Der Talmud sagt über diesen Satz, den man auch »Goldene Regel« nennt: »Der Mensch ist sich selbst am nächsten.« Das ist fast ein Naturgesetz. Ist es also möglich, jemanden so zu lieben wie sich selbst, und muss das auch so verstanden werden? Dürfen wir andere Menschen überhaupt um ihrer selbst willen lieben, ohne ihre Taten zu berücksichtigen?

Als Hillel aufgefordert wurde, die Tora kurz zusammenzufassen, antwortete er: »Was dir nicht lieb ist, das füge auch deinem Nächsten nicht zu.« Das ist eine Negativformulierung der Goldenen Regel. Sie wird nicht nur im Judentum gelehrt, sondern ist auch in der christlichen Tradition bekannt, Konfuzius hat die Regel beherzigt, und auch Immanuel Kant hat sie, philosophisch umformuliert, gelehrt.

Der Mensch in der Antike hat diese Regel aus einer weitaus engeren Perspektive gesehen, als wir sie heute erleben. Damals hatten die meisten Menschen nur geringe Vorstellungen von Ereignissen, die über das unmittelbare Umfeld hinausgingen. Sie waren nicht so vernetzt, wie wir es heute sind. Darum bezog sich auch die Goldene Regel nur auf die nächste Umgebung eines Menschen. Erst zu Beginn der Neuzeit bekam der Mensch das nötige Wissen und die Gelegenheit, diese Regel in einem weltweiten Horizont zu praktizieren.

Die jüdische Tradition hat relativ früh definiert, wen man in diesem Zusammenhang »zu lieben« hat. So relativierte der Raschbam (1085–1174): »Wenn es ein guter Mensch ist – ja. Ist es aber ein schlechter Mensch, ohne Gottesfurcht, dann – nein.« Weitere Rabbiner haben sich ähnlich geäußert und hinzugefügt, dass man sich von Menschen, die Böses wollen oder tun, fernhalten soll.

Rambam Der Ramban (1194–1270) weist darauf hin, dass hier als Bedeutung eine neidlose Herzensgüte gemeint sein kann. Als Beispiel bringt er das Verhältnis von König David und Jonathan, die eine neidlose Achtung füreinander empfanden.

Damit wird uns auch die Mainstream-Erklärung der heutigen Zeit nähergebracht: Es geht nicht unbedingt darum, den Nächsten so zu lieben wie sich selbst. Würde man das tun, dann hätte man viel Freud und Leid mit zu ertragen.

Vielmehr geht es darum, der Formulierung Hillels zu folgen: »Was dir verhasst ist, das tue auch deinem Nächsten nicht an.« Damit erhebt man den eigentlichen Ausspruch von einer emotionalen auf die rationale Ebene. Im Klartext bedeutet das, den Respekt einem Mitmenschen gegenüber zu wahren.

Dieser Respekt ist der universale Bestandteil, den wir beherzigen müssen. Das ist die tiefere Lehre der Tora und ihre Anforderung an uns: Menschen sollten anderen Menschen mit Respekt begegnen – die Basis einer jeden Kultur und Zivilisation.

Wajischlach

Zwischen Angst und Umarmung

Die Geschichte von Jakow und Esaw zeigt, wie zwei Brüder und zwei Welten wieder zueinanderfinden

von Rabbiner Joel Berger  05.12.2025

19. Kislew

Himmlischer Freispruch

Auch wenn Rosch Haschana schon lange vorbei ist, feiern Chassidim dieser Tage ihr »Neujahr«. Für das Datum ist ausgerechnet der russische Zar verantwortlich

von Chajm Guski  05.12.2025

Talmudisches

Freundlich grüßen

Was unsere Weisen über Respekt im Alltag lehren

von Yizhak Ahren  04.12.2025

Begnadigung

Eine Frage von biblischer Tragweite

Die Tora kennt menschliche Reue, gerichtliche Milde und g’ttliche Gnade – aber keine juristische Abkürzung

von Rabbiner Raphael Evers  03.12.2025

Geschichte

Wie Regina Jonas die erste Rabbinerin wurde

Die Ordination Ende 1935 war ein Ergebnis ihres persönlichen Kampfes und ihrer Kompetenz – ein Überblick

von Rabbinerin Ulrike Offenberg  03.12.2025

New York

Das sind die Rabbiner in Mamdanis Team

Im Gegensatz zu seinem Vorgänger hat Mamdani keinen Ortodoxen in seine Übergangsausschüsse berufen – eine Lücke, die bereits im Wahlkampf sichtbar wurde

 02.12.2025

Gemeinden

Ratsversammlung des Zentralrats der Juden tagt in Frankfurt

Das oberste Entscheidungsgremium des jüdischen Dachverbands kommt einmal im Jahr zusammen

 01.12.2025 Aktualisiert

Wajeze

Aus freier Entscheidung

Wie Jakow, Rachel und Lea eine besondere Verbindung zum Ewigen aufbauten

von Paige Harouse  28.11.2025

Talmudisches

Frühstück

Was schon unsere Weisen über die »wichtigste Mahlzeit des Tages« wussten

von Detlef David Kauschke  28.11.2025