Chol Hamoed

Der vage Zugang zum Göttlichen

Warum es keine Garantie gibt, dass der Ewige unsere Gebete auch tatsächlich erhört

von Rabbiner Boris Ronis  10.04.2020 16:10 Uhr

In Zeiten von Corvid-19: einsamer Beter an der Kotel in Jerusalem (April 2020) Foto: Flash 90

Warum es keine Garantie gibt, dass der Ewige unsere Gebete auch tatsächlich erhört

von Rabbiner Boris Ronis  10.04.2020 16:10 Uhr

Gott ist eines der größten Mysterien in der menschlichen Vorstellungskraft, die größte Aufforderung, mit der man sich auseinandersetzen kann. Darum glauben so viele an Ihn, genauso viele lehnen Ihn aber auch ab.

Oft stellen wir uns die Frage: Wer ist eigentlich Gott? Wir wissen, dass Er für uns nicht sichtbar ist, keinen Körper hat und auch sonst nicht vernehmbar ist − es sei denn, Er meldet sich bei uns, spricht uns direkt an.

Vorstellungskraft Wir können Ihn uns nicht weiter vorstellen. Sein Wesen zu erklären, stößt an die Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft. Auch Sein Handeln ist für uns nur bedingt begreiflich. Haben wir als Menschen damit aber überhaupt einen Einfluss oder einen Zugang zum Ewigen?

In der Parascha Ki Tissa bekommen wir einen Einblick in das göttliche Wesen und auch eine kleine Antwort auf unsere Frage »Wer ist Gott?«. Damit haben wir als Menschen eine Möglichkeit, Ihn zu verstehen, Ihn uns begreiflicher zu machen.

Es ist kein Geringerer als Mosche Rabbejnu, der hier den Ewigen darum bittet, sich ihm zu offenbaren. Und der Ewige geht auf den Wunsch Mosches ein.

Wir lesen: »Mosche sprach hierauf: ›Lass mich Deine Herrlichkeit schauen!‹ Der Ewige erwiderte: ›Ich will all Meine Güte vor dir vorbeiziehen lassen und mit dem Namen des Ewigen vor dir ausrufen: Wie Ich gewogen bin, wem Ich gewogen bin, und Mich erbarme, dessen Ich Mich erbarme‹« (2. Buch Mose 33, 18−19).

GESPRÄCH Kein Mensch war dem Ewigen so nahe wie Mosche Rabbejnu. Gott sprach mit Mosche von »Angesicht zu Angesicht«, man könnte es auch als direktes Gespräch bezeichnen. Und da Mosche die Gunst Gottes erlangt hatte, offenbarte sich der Ewige ihm bis zu einem gewissen Grad.

Die Art und Weise, wie wir uns an Gott wenden, kann eine Rolle spielen.

Um diesen Teil unserer Parascha zu verstehen, greift uns der Midrasch Ein Yaakov, Berachot 1,34, etwas unter die Arme. So heißt es dort: »Weiter sagte Rabbi Jo­chanan im Namen von Rabbi Jose: ›Drei Dinge hat Mosche vom Heiligen, gelobt sei Er, verlangt, und sie wurden ihm alle gewährt. Er bat darum, dass die Schechina, die göttliche Präsenz, in Israel wohnen soll, und es wurde gewährt. Er bat darum, dass die Schechina nicht bei den Heiden wohnen möge, und es wurde ihm gewährt. Er bat den Heiligen, gelobt sei Er, Seine Wege bekannt zu machen, und es wurde ihm gewährt. Und Mosche bat den Ewigen auch, ihn Seine Herrlichkeit schauen zu lassen. Diesen Wunsch konnte Er ihm aber nur bedingt erfüllen, denn ›kein Mensch schaut Mich und bleibt am Leben‹« (2. Buch Mose 33,20).

FORM Es ist uns nicht möglich, so wie Mosche mit dem Ewigen zu reden. Wollen wir Gott erreichen, dann beten wir und hoffen auf eine Antwort von Ihm. Ein Gebet kann alle möglichen Ebenen einer Kommunikation mit Gott aufweisen.

So kann es für einige von uns einfach »nur« ein Gebet sein. Für andere Menschen ist es aber ein Rufen oder Flehen zum Ewigen. Manche schreien zum Ewigen. Für andere ist es mehr ein Gesang in Form eines Wehklagens. Wiederum andere bitten oder rufen den Ewigen an. Wir kennen es vor allem als Form der Amida im täglichen Gebet.

Mosche Rabbejnu bat den Ewigen, weil er es vermochte, mit Ihm direkt zu sprechen. Eine Verpflichtung für Gott, uns zu antworten, ergibt sich aber nicht. Der Ewige tut es, wenn es Ihm notwendig erscheint – oder eben auch nicht.

Nun könnte man sich fragen, was die stärkste Form des Gebets ist, die den Ewigen wirklich erreicht. Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, Gott zu einer Handlung zu zwingen, uns eine Antwort zu geben, unsere Gebete zu erhören? Mit Sicherheit nicht! Doch es ist die Art und Weise, wie wir etwas vortragen, die als positiver Ansatz angesehen werden kann − auch wenn sie natürlich nicht garantiert, dass wir eine Antwort erhalten.

ALef BET Eine alte chassidische Geschichte erzählt von einem kleinen Jungen, der einst an den Hohen Feiertagen in die Synagoge kam. Sie war voller Menschen, die eifrig beteten − doch wurden ihre Gebete nicht erhört, da die Tore des Himmels verschlossen waren.

Der kleine Junge trat schüchtern zu den betenden Männern. Sie bemerkten ihn nicht und schenkten ihm keinerlei Beachtung. Er beobachtete sie und sah, wie konzentriert sie ihr Gebet sprachen. Er wünschte sich, genauso zu beten wie sie, doch konnte er es nicht. Er hatte gerade erst angefangen, das Alef Bet zu lernen, konnte noch nicht lesen und war weit davon entfernt, ein ganzes Gebet vorzutragen. Deshalb entschied er sich mit reinem Herzen, das aufzusagen, was er wirklich gut konnte: das Alef Bet.

Als er fertig war, rief er zu Gott: »Ewiger, das ist alles, was ich kann. Bitte ordne die Buchstaben richtig an, denn Du allein weißt ja, wie sich die Gebete anhören müssen.«

Wem der Ewige gewogen ist und wem nicht, werden wir Menschen
nie richtig begreifen.

Die chassidische Geschichte erzählt weiter, wie dieses einfache Gebet in den Himmel aufstieg bis nach oben und schließlich vor den Thron des Ewigen gelangte. Und siehe da, plötzlich öffneten sich umgehend die Tore des Himmels, und alle Gebete wurden wieder erhört.

Auch Mosche Rabbejnus Gebet – das in eine Bitte und seinen Wunsch, Gott besser zu verstehen, eingebettet war – wurde erhört. Tat er dies doch nicht für sich, sondern für die Kinder Israels – damit er uns anführen konnte.

Garantie Die Art und Weise, wie eine Frage oder Bitte an den Ewigen herangetragen wird, spielt eine große Rolle. Aber auch, wenn sie so gestellt ist, dass der Ewige sie erhört, gibt es keine Garantie, dass er uns antwortet. In Seiner Art und Weise bleibt Gottes Wesen für uns im Verborgenen. Wem Er gewogen ist und wem nicht, wie Seine Urteilsfindung funktioniert und wie nicht, werden wir als Menschen in dieser Realität nie richtig begreifen.

Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu hoffen, zu glauben, zu beten, aber auch an uns selbst zu arbeiten und unsere Wege mithilfe dessen zu suchen, was uns bereits bekannt ist, da Gott es uns gelehrt hat.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und Mitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz (ARK).

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