Hoschana Rabba

Der unterschätzte Feiertag

Hoschana-Rabba-Feier bei Chabad Lubawitsch in Brooklyn Foto: Flash90

Im jüdischen Kalender gibt es viele Feiertage, manche sind bekannter, andere weniger – aber Hoschana Rabba, der in diesem Jahr auf den 16. Oktober fällt, ist ein Feiertag, den wohl kaum jemand auf dem Radar hat. Für die meisten ist es nichts weiter als der letzte Feiertag von Sukkot und der Vortag von Schemini Azeret.

Jedoch verweist schon die Länge des Gebets am Morgen von Hoschana Rabba auf die Tatsache, dass sich dieser von den anderen Chol-Hamoed-Tagen, zu Deutsch: Halbfeiertagen, von Sukkot unterscheidet. Im Gegensatz zu Letzteren, an denen man die Bima mit den Arba Minim, also den vier Arten, einmal umkreist, werden an Hoschana Rabba insgesamt sieben Umkreisungen vollzogen. Diese werden »Hoscha’anot« genannt, weshalb manche Gelehrte der Auffassung sind, dass dieser Feiertag deshalb Hoschana Rabba genannt wird.

mussafgebet In vielen Gemeinden ist es üblich, dass der Chasan während des Mussafgebets – ähnlich wie an Jom Kippur – einen weißen Kittel trägt. Außerdem gibt es einen Brauch, in der Nacht von Hoschana Rabba wach zu bleiben und die gesamte Tora zu lesen, oder zumindest, laut Arizal, Dwarim (das 5. Buch Mose) und Tehillim (Psalmen).

Heutzutage wird der Brauch – im Gegensatz zu dem in der Schawuot-Nacht, die Tora zu lernen – nur in sehr wenigen Gemeinden praktiziert und das, obwohl er schon von Rabbi Zidkia Anaw (1210–1280) erwähnt wird.

Doch der wahrscheinlich merkwürdigste Brauch an Hoschana Rabba ist das Schlagen der Arawot, zu Deutsch: Trauerweide, zum Abschluss der Hoscha’anot. Dabei werden in der Regel fünf, laut anderer Meinungen manchmal drei Arawot zu einem Bündel zusammengebunden und gegen den Boden geschlagen. Währenddessen spricht man ein besonderes Gebet.

arawot Rabbi Mosche Ben Maimon, der Rambam, schreibt, dass zu Zeiten des Tempels an Sukkot jeden Tag riesige Arawot in den Tempel gebracht und an den »Misbeach«, den Altar, gelehnt wurden, sodass sich die Spitzen der Trauerweiden darüber neigten. In Erinnerung daran haben die Propheten den Brauch eingeführt, an Hoschana Rabba die Bima, die den »Misbeach« symbolisiert, mit Arawot zu umkreisen und im Anschluss gegen den Boden zu schlagen.

Diese ungewöhnlichen Bräuche veranlassen uns zu der Frage: Was macht Hoschana Rabba so besonders? Rabbi Jakob Ben Ascher (1269–1343) erklärt, basierend auf der Mischna, dass an Hoschana Rabba, dem letzten Tag von Sukkot, im himmlischen Gericht über die Menge des Regens für das kommende Jahr entschieden wird. Daher werden in den Gebeten an Hoschana Rabba hauptsächlich Wasser und Regen thematisiert. Die Arawot dienen dabei als Symbol, weil sie viel Wasser benötigen und stets in der unmittelbaren Nähe einer Quelle wachsen.

In anderen Schriften finden wir aber die Hinweise, dass es an Hoschana Rabba nicht nur um Wasser geht: »Und so sagte der Allmächtige zu Awraham, unserem Vater: Wenn es an Rosch Haschana keine Sühne für deine Nachkommen gibt, dann wird es an Jom Kippur sein, und wenn nicht, dann an Hoschana Rabba.«

SOHAR Ähnlich steht auch im Sohar, dem bedeutendsten Buch der Kabbala, geschrieben: »Am siebten Tag von Sukkot ist der Abschluss des Gerichts, und die Zettel (mit dem Urteil) verlassen den Palast des Königs.«

Laut dem Sohar wird an Hoschana Rabba nicht nur über die Wassermenge im kommenden Jahr entschieden, sondern ebenfalls über alle Aspekte des Lebens. Hoschana Rabba ist quasi der Abschluss von Rosch Haschana und Jom Kippur und somit eine dritte und letzte Chance für ein gutes Urteil. Das würde die Ähnlichkeiten zwischen Hoschana Rabba und Jom Kippur erklären.

Rabbiner Shlomo Kluger (1785–1869) schreibt, dass sich das himmlische Gericht in zwei Teile aufteilt. An Jom Kippur wird man für die Tage gerichtet und an Hoschana Rabba für die Nächte – früher gab es Menschen, die anhand des Mondes den Ausgang des Urteils vorhersagen konnten. Daher gibt es den Brauch, in der Nacht von Hoschana Rabba Tora zu lernen, weil man genau an diesem Tag für die Nächte des vergangenen Jahres gerichtet wird.

URTEIL Die Gaonim erklären, dass auch der Brauch, Arawot auf den Boden zu schlagen, mit der Thematik des endgültigen Urteils zu tun hat. Die Blätter der Trauerweiden erinnern mit ein wenig Fantasie an Lippen, und mit dem Schlagen der Arawot beabsichtigen wir, dass die Anschuldigungen des himmlischen Anklägers nicht berücksichtigt werden sollen.

Doch warum nennen die Gelehrten des Mittelalters nur die Vorhersagen über Wasser und Regen als Erklärung, ohne dabei auch nur mit einem Wort zu erwähnen, dass an diesem Tag das Gericht von Rosch Haschana und Jom Kippur endgültig abgeschlossen wird?

Laut Rabbiner Jakob Ettlinger (1798–1871) gibt es dafür einen historischen Grund. Viele Rischonim, unter ihnen prominente Gelehrte wie Rabbi Jakob Ben Ascher, wussten nichts von der Existenz des Sohar, sodass ihnen nur die Mischna, der Talmud und die Midraschim zur Verfügung standen. Aus der Mischna wussten sie, dass an Sukkot über die Menge des Wassers, das in der Welt niedergehen soll, entschieden wird. Daher nahmen sie an, dass dies der einzige Grund für die Besonderheit von Hoschana Rabba sei. Wir aber verfügen – zum Glück, kann man sagen – über den Sohar, der uns die wahre Absicht von Hoschana Rabba offenbart hat.

Falls es uns noch nicht gelungen ist, an Rosch Haschana und Jom Kippur eine vollkommene Sühne zu erlangen, dann ist Hoschana Rabba unsere letzte Chance!

Ki Tawo

Echte Dankbarkeit

Das biblische Opfer der ersten Früchte hat auch für die Gegenwart eine Bedeutung

von David Schapiro  12.09.2025

Talmudisches

Schabbat in der Wüste

Was zu tun ist, wenn jemand nicht weiß, wann der wöchentliche Ruhetag ist

von Yizhak Ahren  12.09.2025

Feiertage

»Zedaka heißt Gerechtigkeit«

Rabbiner Raphael Evers über Spenden und warum die Abgabe des Zehnten heute noch relevant ist

von Mascha Malburg  12.09.2025

Chassidismus

Segen der Einfachheit

Im 18. Jahrhundert lebte in einem Dorf östlich der Karpaten ein Rabbiner. Ohne je ein Werk zu veröffentlichen, ebnete der Baal Schem Tow den Weg für eine neue jüdische Strömung

von Vyacheslav Dobrovych  12.09.2025

Talmudisches

Stillen

Unsere Weisen wussten bereits vor fast 2000 Jahren, was die moderne Medizin heute als optimal erkennt

von David Schapiro  05.09.2025

Interview

»Die Tora ist für alle da«

Rabbiner Ethan Tucker leitet eine Jeschiwa, die sich weder liberal noch orthodox nennen will. Kann so ein Modell auch außerhalb New Yorks funktionieren?

von Sophie Goldblum  05.09.2025

Trauer

Eine Brücke zwischen den Welten

Wenn ein Jude stirbt, gibt es viele hilfreiche Riten. Doch auch für Nichtjuden zeigt die Halacha Wege auf

von Rabbiner Avraham Radbil  05.09.2025

Ki Teze

In Seinem Ebenbild

Was der Tanach über die gesellschaftliche Stellung von Frauen sagt

von Rabbinerin Yael Deusel  04.09.2025

Anti-Judaismus

Friedman: Kirche hat »erste globale Fake News« verbreitet

Der gebürtige Pariser warnte zudem vor weltweiten autokratischen Tendenzen und dem Verlust der Freiheit

 02.09.2025